Angst vor Nähe betrifft mehr Menschen, als man annehmen würde und ist nicht immer gleich zu erkennen. Wie entsteht sie? Wie wirkt sie sich aus?
Die Angst vor Nähe kann sich unterschiedlich ausdrücken. Sie kann den körperlichen oder den seelisch, emotionalen Aspekt betreffen, oder natürlich beide gleichzeitig. Oftmals ist aber auch nur einer der beiden Bereiche betroffen – zumindest hat es diesen Anschein.
Bei der Angst vor körperlicher Nähe ist der sexuelle Bereich betroffen, aber auch einfache Umarmungen können für die Betreffenden bereits echte Herausforderungen sein. Bei der Abwehr von seelischer und emotionaler Nähe wirken die Personen meist unabhängig von körperlichen Zuwendungen, die sie trotzdem zulassen können, distanziert und kühl, auch nahestehenden Menschen gegenüber. Interessanterweise kommt es in diesem Zusammenhang häufiger zu Verdrängungen, als bei dem Problem mit körperlicher Nähe. D. h., das Nicht-Zulassenkönnen von emotionaler Nähe gestehen sich diejenigen viel seltener ein.
Wie zeigt sich die Angst vor Nähe?
Die Angst vor körperlicher Nähe ist relativ leicht und schnell zu erkennen. Körperliche Berührungen, jeglicher Art, insbesondere von Personen, die den Betroffenen nicht sehr nahe stehen, stellen ein Problem dar. Aber auch sehr nahestehende Menschen müssen dann meist beachten, dass sie diejenige Person nicht unvorbereitet berühren.
Ein Problem mit seelischer, emotionaler Nähe zeigt sich hingegen nicht so schnell. Oberflächliche Bekanntschaften und Freundschaften können ohne weiteres von den Betroffenen zugelassen werden, wodurch dies auch meist nicht bemerkt wird. Zu merken ist es für jene, die diese Schranke der Oberflächlichkeit durchbrechen und dieser Person wirklich nahe kommen wollen, also in einer Liebesbeziehung. Hier kommt es schnell wieder zu einem Rückzug, wobei die andere Person häufig vor den Kopf gestoßen wird. Entsteht hingegen eine zu große Distanz, wird der Kontakt wiederhergestellt oder intensiviert, da im Inneren doch ein Bedürfnis nach Annäherung eines geliebten Menschen besteht. Meist dauert es aber nicht lange bis nach der Annäherung wieder ein Rückzug kommt.
Wie entsteht Angst vor Nähe?
Sowohl der Angst vor körperlicher als auch vor emotionaler Nähe liegen meist ein oder mehrere Erlebnisse in der Kindheit zugrunde, wo Gefahr bestand bzw. ein starker Vertrauensverlust auftrat. Zu diesen Gefahren zählen sexueller Missbrauch, Misshandlungen und jede Form von Gewalt, aber auch die Unverlässlichkeit, die emotionale Kälte und das Nicht-Verfügbarsein von engen Bezugspersonen.
Jedes Kind kommt mit einem Urvertrauen auf die Welt. Spielen sich nicht schon in frühester Kindheit dramatische Erlebnisse ab, vertraut das Kind auf den Schutz und die Geborgenheit von Mutter und Vater. Im Fall von körperlichen Übergriffen ist es kein Wunder, dass dieses Urvertrauen stark verletzt wird und infolgedessen auch in späteren Jahren nur schwer ein tiefes Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann.
Doch nicht alle Menschen, die Angst vor Nähe haben, waren in ihrer Kindheit oder Vergangenheit irgendwelchen Gewalttätigkeiten ausgesetzt. Auch der frühe Verlust eines Elternteils kann sich auf diese Weise auswirken. Oder fortwährende emotionale Verletzungen durch die Bezugspersonen können ebenfalls zu anhaltenden seelischen Verletzungen führen, die bei den Betroffenen eine bewusste oder auch unbewusste Abwehr von Nähe verursachen. Sie können es dann nicht mehr zulassen, dass ihnen ein anderer Mensch wirklich nahe kommt, da die erste Erfahrung von Nähe wie sie zwischen Eltern und Kind auftritt, traumatisch verlief. In vielen Fällen ist das denjenigen nicht bewusst und sie würden selbst behaupten eine normale Kindheit ohne gröbere Zwischenfälle erlebt zu haben. Wenn Kinder mit Eltern aufwachsen, auf die beispielsweise permanent kein Verlass ist oder wo ein raueres Klima herrscht, empfinden sie das als normal, was aber nichts an den seelischen Auswirkungen ändert.
Der Kreislauf kommt ins Rollen
Im weiteren Leben kommt es dann häufig zu einer Vermeidung oder Abwehr von Personen, die denjenigen nahe kommen könnten. Oftmals werden dann gerade diese Menschen von den Betroffenen besonders schlecht behandelt, um die vermeintliche Gefahr wieder abzuwenden. Das Unterbewusstsein hat in diesem Zusammenhang einen starken Schutzmechanismus entwickelt.
Clinton Callahan bezeichnet diesen Schutzmechanismus in seinem Buch „Wahre Liebe im Alltag“ als eine Box, die alles abwehrt, worin sie eine Gefahr vor Verletzung vermutet. Je näher man einen anderen Menschen an sich heranlässt, desto höher ist diese Gefahr und desto aktiver wird die Box. Personen, wo sich also allmählich ein Vertrauensverhältnis aufbaut, können schlagartig als Feind identifiziert werden, ohne dass dieser Vorgang bewusst abläuft. Infolgedessen wird der Feind in die Flucht geschlagen, z. B. durch unfreundliches, abwehrendes Verhalten. Dadurch wird die andere Person verletzt und gedemütigt. Nachdem die Betroffenen ihre eigenen Reaktionen meist selbst nicht verstehen, tut es ihnen hinterher leid.
Doch dieser Kreislauf wiederholt sich immer aufs Neue, wenn das dahinterstehende Muster nicht erkannt und behandelt wird.