Stottern: ein Problem der Koordination von Zunge, Lippen und Stimme
In der Sprachentwicklung eines Kindes gibt es zunächst nur einzelne, sogenannte Inhaltsworte, die es lernt. Sie haben eine sehr konkrete Bedeutung: Mama, Auto, Puppa, haba, tinka, esse, laufe und so weiter. Hier werden Sie kaum ein Stottern entdecken. Selbst so hoch komplizierte Worte wie „Straßenbahn“ wird ein ein- oder zweijähriges Kind meist gekonnt vereinfachen, das aber stotterfrei: „Taßebahn!“
Mit drei oder vier Jahren haben die Kids zugelegt: Sie reden nun schon in längeren Sätzen, deren Inhalte komplizierter und durchdachter werden, Kausalitäten werden geknüpft, Beschreibungen gelernt. Jetzt zeigt es sich, ob das Kind in der Lage ist, seine Sprechwerkzeuge (Zunge, Lippen und Stimmbänder) geschickt zu koordinieren, ohne dabei den Inhalt seiner Aussage zu vergessen: „Da, der Max, der hat mich so feste geschubst, gegen die Tür da vorne!“ Dabei muss der Zugriff auf den Wortschatz recht reibungslos funktionieren. Nur eine Unsicherheit in der Bewegungsausführung der Zunge, hoppla: beim Reden gestolpert! „Da-das tat aber weh! La-la-lass das!“
Das allerdings passiert jedem täglich, auch Erwachsenen, die „oral gut zu Fuß“ sind; an „schwachen Tagen“, wenn man krank ist oder sehr im Stress, sogar mehrmals. Einem Kind in der Sprachentwicklung passiert es öfter, weil seine Sprechorgane noch nicht automatisiert funktionieren.
Wer viel und stark stottert, ist gefährdeter: Es droht ein Teufelskreis
Viele Kinder überwinden ihre Koordinationsunsicherheit, und nach einer kurzen Phase, in der sich ihre Eltern und das Umfeld oft große Sorgen gemacht haben, reden sie wieder völlig stotterfrei.
Es gibt nach P. Sandrieser eine Faustformel, die beachtet werden sollte, die sogenannte 3%-Hürde: Stottert das Kind mehr als 3% seiner gesprochenen Silben, steht zu befürchten, dass sich das Syndrom festigt. Wie viel Prozent das Kind nun schon erreicht hat, sollte ein Fachmann klären, ein Logopäde oder Sprachtherapeut, wenn man den Eindruck hat, die Stotterei ist häufig und druckhaft.
Meist ist dem Kind sehr wohl bewusst, dass es anders spricht. Der Mund wird zur Gefahrenzone, unter Umständen wird längeres Reden gemieden, auch Telefonate, bestimmte Personen, bei denen es mehr stottert als bei anderen. In der Folge entstehen dann Ausweichmechanismen, Kampf oder Flucht, es wird geschnipst, das Gesicht verzogen, gestampft, der ganze Körper kann in Wallung geraten, um das Übel los zu werden. Schweigen wird zum Freund. Das wiederum fördert nicht die Sprechflüssigkeit, Anspannung und Angst verhindern jede gute Sprechkoordination: ein Teufelskreis!
Wann muss ich auf das Stottern reagieren?
Sie sollten einen Logopäden aufsuchen, wenn
- das Stottern länger andauert als ein halbes Jahr,
- Sie sich ernste Sorgen um ihr Kind machen,
- das Kind beim Stottern bereits das Gesicht verzieht oder andere Anzeichen von Druck und Stress zeigt oder
- Hänseleien auftreten.
Stottern ist leider nicht heilbar
Als Elternteil können Sie verhindern, dass Ihr Kind mehr ins Stottern kommt als ohnehin. Hierzu ist eine ausführliche Beratung beim Fachmann notwendig. Ein Heilungsversprechen aber sollte Ihnen kein seriöser Therapeut geben. Es kommt vor, dass Stotterer zeitweise oder ganz davon los kommen, aber eine Garantie gibt es nicht. Je länger es besteht, desto länger und schwerer wird der Prozess, zur Sprechflüssigkeit zurück zu finden. Dabei gibt es Angebote von Therapeuten, die Atem- oder Sprechtechniken vermitteln, welche dem Stottern entgegen wirken. Wer singt, stottert meist nicht! Aber wer will seine Telefonate singen? Auch die Angst und das Vermeideverhalten des Stotterers müssen in einer gründlichen Verhaltenstherapie ergründet werden.
Stottern ist kein Problem, es macht Probleme: Die kann man lösen
Das Wichtigste ist, das das „Thema Stottern“ nicht mehr tabuisiert wird. Wer weiß schon, dass man einem Stotternden ruhig in die Augen sehen sollte, damit er sich nicht wie ein Alien fühlt? Wer weiß, dass man Stotternde ihre Sätze bitte (!) selbst beenden lassen sollte? Je lockerer und geduldiger, je normaler Sie als Zuhörer dem Stotternden gegenüber sind, desto mehr wird Ihre Ruhe ihn „anstecken“, seine Körperspannung wird sich senken, und er wird leichter sprechen können. Sagen Sie ruhig „Stottern“, bei kleineren Kindern reden Sie vom „Stolpern beim Reden“, aber machen Sie keinen Bogen um das Thema: Sie bauschen es damit nur auf! An „unflüssigen Tagen“ empfiehlt Lennard Larsson, Stotterexperte, mit dem Kind viel zu schweigen, zu malen. Erwachsene Stotterer könnten lesen (leise natürlich) oder fernsehen. An „sprechflüssigen Tagen“ geben Sie Ihrem Kind Gelegenheit zu erzählen: So merkt es, dass es sehr wohl flüssig reden kann! Dies verstärkt seine Fähigkeit zur Sprechflüssigkeit wiederum: ein positiver Effekt!
Wohin wendet man sich?
Das Wichtigste ist, dass der Stotternde einen Ansprechpartner hat, dem er vertrauen kann. Lehrer, Erzieher, ein aufmerksamer Chef. Der Arzt sollte problemlos ein Rezept, eine sogenannte Heilmittelverordnung verschreiben für zumindest eine Diagnostik oder ein Beratungsgespräch. Therapeuten, die sich auf Stottern spezialisiert haben und ihre Praxis in Ihrer Stadt haben, finden Sie beispielsweise auf den Websites der sprachtherapeutischen oder logopädischen Dachverbände; aber auch Ihre Krankenkasse wird Ihnen gern eine Liste relevanter Therapeuten in Ihrer Nähe zusenden.