Sigmund Freud- Die psychoanalytische Theorie. Die Psychoanalyse ist die älteste psychotherapeutische Schule, die sich mit unbewussten psychischen Vorgängen und deren Auswirkungen beschäftigt.
Als der Wiener Arzt und Tiefenpsychologe Sigmund Freud 1896 seine Theorie das erste Mal vorstellte, wurde sie von der Öffentlichkeit mit Entsetzen kommentiert. Man hielt es für vollkommen unvorstellbar, dass eine längst vergessene Kindheitserfahrung irgendeinen wesentlichen Einfluss auf das Leben Erwachsener haben könnte, und man geriet außer sich bei der Vorstellung, dass derartige Erfahrungen sexueller Natur sein könnten. Nach psychoanalytischer Vorstellung gibt es in jedem Menschen einen grundlegenden sexuellen Instinkt oder Trieb, der von Geburt an vorhanden ist.
Freud postulierte, dass Säuglinge zunächst nach unmittelbarer und uneingeschränkter Triebbefriedigung streben, bis sie im Zuge sozialer Lernprozesse ihre triebhaften Bedürfnisse zu modifizieren und zu kontrollieren lernen. Diese Entwicklung vollzieht sich in drei Abschnitten, die sich parallel zur körperlichen Reifung des Kindes vollziehen: von der oralen Phase über die anale Phase zur phallischen Phase.
Die orale Phase
In der oralen Phase (von lat. os: der Mund; bis 1. Lebensjahr) wird Lust vor allem über den Mund erlebt. An der Brust der Mutter zu saugen, bedeutet für ein Kind nicht nur Ernährung, sondern auch körperliche und psychische Befriedigung. In dieser Phase dient der Mund auch als Organ, mit dem die Welt erforscht werden kann. Das Kind nimmt alles in den Mund, um es genauer kennen zu lernen.
Die anale Phase
In der darauf folgenden analen Phase (von lat. anus: der Darmausgang; 1. bis 3. Lebensjahr) verschiebt sich die hauptsächliche Quelle sinnlicher Befriedigung vom Mund in die Analregion. Das Kind beginnt nun, seine Ausscheidungsvorgänge zu kontrollieren, es gewinnt gleichzeitig Kontrolle über die Erwachsenen, da es ihnen jetzt nach Belieben gefallen oder missfallen kann, indem es seinen Stuhlgang zurückhält oder nicht.
Die phallische Phase
Auf die orale und die anale Phase, die bei beiden Geschlechtern ungefähr gleich verlaufen, folgt die phallische (fantil-genitale) Phase (von griech, phallos: der Penis; 3. bis 6. Lebensjahr). In dieser Phase entwickelt sich das Bewusstsein für das eigene Geschlecht, den Unterschied zwischen den Geschlechtern und die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane. Für den Lustgewinn entscheidende Körperzonen sind nicht länger Mund und Anus, sondern Penis und Klitoris. In dieser Phase entwickeln Kinder ihre Neugier für die Umgebung, nehmen Dinge in die Hand, zerlegen ihr Spielzeug in seine Einzelteile, um hineinzusehen, oder untersuchen den eigenen Körper oder den anderer Kinder.
Der Ödipus-Komplex
Der wichtigste Aspekt in dieser Phase ist laut Freud die Entwicklung des sogenannten „Ödipus-Komplexes“, das heißt die enge erotische Beziehung zu dem Elternteil des anderen Geschlechts, und ein Gefühl der Rivalität gegenüber dem Elternteil des eigenen Geschlechts.
Störungen und resultierende Verhaltensauffälligkeiten
Freud ging davon aus, dass ein Kind sich normalerweise von der oralen über die anale zur phallischen Phase weiterentwickelt, es sei denn, negative Einflüsse störten diese Entwicklung. Wenn zum Beispiel die besonderen Bedürfnisse des Kindes in einer dieser Phasen zu wenig oder zu sehr befriedigt würden, könne ein Kind „fixiert“ und so in seiner psychosexuellen Entwicklung behindert werden. Eine zu restriktive oder zu nachsichtige Sauberkeitserziehung könnte zum Beispiel zu einer analen Fixierung führen. Als Erwachsener würde man ein solches Kind dann als „analen Charakter“ bezeichnen, das heißt als jemanden, für den Disziplin, Ordnung und Sauberkeit besondere Werte darstellen, der geizig ist oder der anale Stimulierung jeder anderen Form des Geschlechtsverkehrs vorzieht. Ein „oraler Charakter“ andererseits würde sexuelle Befriedigung vor allem in oralen Reizen suchen, oder er könnte ein übertriebener Esser, Raucher oder Trinker werden.