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Wie funktioniert das Gedächtnis?

Von der Vergangenheit und der Zukunft – und ihrem Zusammenhang

Ein kurzer Überblick über die Funktionalität des Gedächtnisses und eine Absage an die Vorstellung, das Gedächtnis sei nichts weiter als ein Speicher.

Wer auch immer schon einmal von einem ihm scheinbar unbekannten Menschen namentlich angesprochen worden ist und nicht zu den Reichen und Schönen gehört, wird schmerzlich daran erinnert, dass sein Gedächtnis auch nicht mehr ist, was es einmal war – soweit er sich wenigstens daran erinnern kann. Die Pharmaindustrie hat das natürlich schon längst erkannt und erbietet sich in Fernsehspots, unserem Erinnerungsvermögen am besten schon während der Adoleszenz auf die Sprünge zu helfen.

Die landläufige Vorstellung vom Gedächtnis ist die eines Ortes, an dem Objekte, Sachverhalte, Erlebnisse, Personen, Lernstoff aufbewahrt werden – in unterschiedlichen Zeitfenstern. Daraus resultiert die Unterscheidung zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis. Das ist natürlich eine Metapher: das Gedächtnis als Speicher, als Archiv, das man mit Erinnerungen vollstopfen kann. Aber seine Funktion besteht, wie neuere kognitionswissenschaftliche Ansätze betonen, in etwas anderem: Es geht nicht ums Speichern, sondern um die Selektion, die Auswahl dessen, was als erinnernswert gelten kann und was nicht. Das Gedächtnis hat die Aufgabe, zwischen dem Erinnern und dem Vergessen zu unterscheiden – mit einer unverkennbaren Vorliebe für das Vergessen, um auf diese Weise mentale Kapazitäten für die Informationsverarbeitung, das Beobachten im allgemeinsten Sinne, verfügbar zu halten.

All das spielt sich jeweils von Minute zu Minute, Sekunde zu Sekunde ab; es gibt nichts Gegenwärtigeres als das Gedächtnis. Nur weil es hier und jetzt operiert, können wir überhaupt die wesentliche Bedingung für unsere Zeiterfahrung, nämlich die Unterscheidung in vorher und nachher, erbringen.

Pendeln zwischen Bekanntem und Neuartigem

Dabei unterscheiden systemtheoretische Ansätze zwei funktionale Zustände, und zwar die Erinnerungs- und die Oszillatorfunktion. Mit der Erinnerungsfunktion kann ein System Redundanzen herstellen, Gewissheit über Vergangenes schaffen, sich Vergangenes vergegenwärtigen; mit der Oszillatorfunktion kann es dagegen einen Bezug zwischen der erinnerten Vergangenheit und einer denkbaren Zukunft herstellen, Neuartiges aus der Erinnerung erzeugen, indem es das zuvor Ausgeschlossene, Unmarkierte wieder einführt, ins Auge fasst und auf diese Weise eine Vorstellung von der Zukunft erhält – einer Zukunft, die gerade nicht bis ins kleinste Detail vorhersehbar ist, einer Zukunft, in der Bestimmtes weder unmöglich noch zwingend ist. Das bedeutet, dass weder die Vergangenheit noch die Erinnerungen ein für allemal wie in Stein gemeißelt feststehen, sondern mit Blick auf künftiges Geschehen abgeändert werden können, in anderem Licht erscheinen. Genau dies leistet die Oszillation. Sie macht die Vergangenheit unter der Perspektive der denkbaren Zukunft überraschend. Sie ermöglicht, von gemachten Erfahrungen induktiv auf eine mögliche Zukunft zu schließen, das heißt: Erwartungen aufzubauen. Die Idee von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die Nietzsche entwickelte, greift also nicht. Eine Vorstellung davon kann man gerade zu kulturell bedeutsamen Feier- und Gedenktagen gewinnen, in denen es darum geht, wie ein bestimmter Zeitraum oder Zeitpunkt der Vergangenheit zu bewerten ist – und welche Konsequenzen sich aus dieser Vergangenheit für die Zukunft ergeben. Wäre die Vergangenheit so einsinnig, müsste man sie nicht im Guten wie im Schlechten immer wieder aufs Neue beschwören.

Die Verknüpfung zwischen Vorher und Nachher

Das Systemgedächtnis erlaubt es also, zwischen Bekanntem und Neuartigem zu pendeln und leistet auf diese Weise eine Verknüpfung zwischen dem Vorher und dem Nachher, der Vergangenheit und der Zukunft. Und auf diese Weise gewinnt der sich Erinnernde, sei es ein einzelner Mensch, sei es ein Kollektiv, so etwas wie ein Eigenbewusstsein, nämlich indem er/sie/es beobachtet, wie er/sie/es zuvor beobachtet hat. Der technische Ausdruck hierfür ist „Rekursivität“ – der Vorgang, in dem sich gedankliche Operationen an gedankliche Operationen reihen, Errechnungen errechnet werden.

Deshalb läuft bei jeder Operation das Gedächtnis im Hintergrund, unbewusst also, mit, ohne eigens thematisiert zu werden. Das geschieht nur in Sonderfällen – wie in dem Fall des unbekannten Bekannten, von dem eingangs die Rede war. Und wie sehen hier die Konsequenzen für die Zukunft aus? Nun, vielleicht sieht man sich die Werbespots der Pharmaindustrie mit gemischten Gefühlen an oder zimmert sich Eselsbrücken zurecht, um sein Gedächtnis auf Vordermann zu bringen – um in Zukunft nicht in peinliche Situationen zu geraten.