„Siebzig Jahre haben mich gelehrt, das Leben mit heiterer Demut zu akzeptieren.“ Sigmund Freud (1856-1939) litt seit drei Jahren an Gaumenkrebs und musste sich mit einer Kieferprothese behelfen. In den Monaten vor und nach seinem runden Geburtstag am 6. Mai 1926 machte ihm auch das Herz zu schaffen. Er war alles andere als in Feierlaune. Zudem schmerzte ihn noch der erst wenige Monate zurückliegende Tod seines besten Freundes Karl Abraham (1877-1925). Ihm statt sich selbst wollte er die Frühjahrsausgabe der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse gewidmet sehen: „Man kann nicht Feste feiern, bevor man der Pflicht des Trauerns nachgekommen ist.“
Freuds Eintreten für seinen Schüler Theodor Reik
Trotz alledem: „Noch immer ziehe ich die Existenz dem Ausgelöschtsein vor.“ Und nicht nur die nackte Existenz. Der alte und kranke Freud zog für einen jüngeren Kollegen zu Felde, den man der Kurpfuscherei bezichtigt hatte. Aus diesem Anlass legte er seine Position in der Frage der Laienanalyse schriftlich nieder – in gewohnt glänzender Form. Laienanalyse heißt, die Psychoanalyse, also ein Heilverfahren, zu praktizieren, ohne ein Doktor der Medizin zu sein. Freud selbst hatte zwar dieses Studienfach gewählt und absolviert, war aber schon früh der Überzeugung gewesen, dass man, um Neurosen behandeln zu können, kein Arzt sein müsse. Psychoanalyse hatte für ihn mit Medizin ähnlich wenig zu tun wie etwa mit Philosophie. So hatte er einigen seiner Schüler sogar ausdrücklich vom Medizinstudium abgeraten. Genau einer von diesen, Theodor Reik (1888-1969), war nun in Österreich angeklagt worden. Dessen Berufsverbot vermochte Freuds persönliches Einschreiten bei der Behörde gerade noch abzuwenden. Reik hatte sich seinerzeit übrigens Freud mit einer Arbeit über Arthur Schnitzler als Psycholog empfohlen.
Freuds Standpunkt zur sogenannten Laienanalyse
Die Frage der Laienanalyse war indessen auch unter Psychoanalytikern heiß umkämpft. Vor allem die Amerikaner sprachen sich vehement und in aller Form gegen eine Zulassung von Nichtmedizinern aus. Freud erwog, diesen Landesverband aus der internationalen Vereinigung auszuschließen, bemühte sich dann aber um einen Kompromiss. So teilte er mit seinen Kontrahenten die Auffassung, dass ein Patient, um eine Diagnose erstellen zu lassen, in jedem Fall einen anerkannten Arzt zu konsultieren habe. Denn auch eine psychische Auffälligkeit könne durchaus mit einer organischen Schädigung einhergehen. Erst wenn diese ausgeschlossen werden und eine Überweisung zur Psycho-Therapie erfolgen könne, falle diese auch in die Kompetenz von Laienanalytikern. Deren Qualifikation indessen sei nicht zu unterschätzen; denn wer „selbst analysiert worden ist, von der Psychologie des Unbewussten erfasst hat, was sich heute eben lehren lässt, in der Wissenschaft des Sexuallebens Bescheid weiß und die heikle Technik der Psychoanalyse erlernt hat, die Deutungskunst, die Bekämpfung der Widerstände und die Handhabung der Übertragung“, der sei kein Laie mehr, jedenfalls kein psychoanalytischer, sondern ein Fachtherapeut, der eine große Verantwortung zu tragen vermöge.
Freuds Begegnungen mit Tagore und Einstein
Aus dem Leben des 70-jährigen Freud ist ferner zu berichten, dass er dem bengalischen Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore (1861-1941) einen Besuch abstattete. Der Dichter, dessen Geburtstag ebenfalls auf den 6. Mai fiel, hielt sich im Oktober 1926 in Wien auf. Gemeinsam war beiden zudem die Bewunderung für die Reformpädagogin Maria Montessori (1870-1952). Zum Jahreswechsel 1926/27 traf er mit Albert Einstein (1879-1955) in Berlin zusammen, wo die Freudsöhne Oliver und Ernst lebten. Sein erster persönlicher Eindruck von dem Begründer der Relativitätstheorie: „Er ist heiter, sicher und liebenswürdig, versteht von Psychologie so viel wie ich von Physik, und so haben wir uns sehr gut gesprochen.“