Wenn im Alltag von Zahlen die Rede ist, so sind in erster Linie nicht die komplexen oder die reellen Zahlen gemeint, oft auch nicht die rationalen, also die Bruchzahlen, sondern die Zahlen, die gemeinhin als die natürlichen Zahlen bezeichnet werden. Im 19. Jahrhundert meinte ein Mathematiker: „Die natürlichen Zahlen sind etwas von Gott Geschaffenes, alles andere ist Menschenwerk. Die natürlichen Zahlen bedürfen also keiner weiteren Begründung.“ Was aber versteht man unter den natürlichen Zahlen eigentlich und was hat es mit ihrer „Natürlichkeit“ wirklich auf sich?
Mit dem Aufzählen ist es nicht getan
Die nächstliegende Antwort könnte sein: 0, 1, 2, 3, 4, 5, … usw., sind natürliche Zahlen und damit scheint der Fall auch schon erledigt zu sein. Aber der Schein trügt, denn diese Antwort ist eigentlich gar keine Antwort auf die Frage, was natürliche Zahlen eigentlich sind. Es ist nur eine Aufzählung von Namen oder Bezeichnungen. Wenn uns ein Außerirdischer fragen würde, was Menschen sind, so würden wir ihm wohl kaum antworten: Anton, Beate, Carl, Doris, …usw. Eine Aufzählung von Namen hat nur dann Sinn, wenn der Betreffende diejenigen, die bezeichnet werden, schon kennt. Außerdem bleibt es ihm überlassen, herauszufinden, was das Gemeinsame, das Charakteristische der angeführten Beispiele ist. Insofern ist die Nennung von Beispielen keine adäquate Antwort auf die Frage: Was sind Menschen. Hinzu kommt, dass die Namen der Zahlen gar nicht eindeutig sind. Statt 1, 2, 3, 4, 5, … usw. hätte man auch Null-Komma-Periode-Neun, 4/2, 1+2, 2×2, 15/3, … usw. antworten können. Mit der Nennung von Namen oder Bezeichnungen ist es also offensichtlich nicht getan.
Auf Zahlen kann man auch nicht zeigen
Schließlich ist es aber auch nicht möglich, auf Zahlen zu zeigen und zu sagen „das ist eine Zahl“, wie dies bei Menschen oder Gegenständen sehr wohl möglich wäre. Hier könnte man auf Menschen zeigen und sagen: „Das ist ein Mensch und das ist ein Mensch und …“ usf. Oder man könnte auf konkrete Bäume zeigen und sagen: „Das ist ein Baum und das ist ein Baum und …“ usw. Aber wie will man auf Zahlen zeigen? In der Natur gibt es keine Zahlen. Eine 3 lässt sich in der Wirklichkeit so nicht finden.
Man könnte aber etwas anderes tun, was man normalerweise auch macht, wenn man kleinen Kindern das Zählen beibringen will. Man nimmt einige Äpfel oder Stifte oder andere Gegenstände und sagt „Dies sind 3 Äpfel“, „Dies sind 3 Stifte“, „Dies sind 3 Finger“ … usw. Auf diese Weise stellt sich mit der Zeit eine Vorstellung dessen ein, was mit dem Wort beziehungsweise der Zahl 3 gemeint ist und ebenso mit den anderen natürlichen Zahlen. Die Zahlen erscheinen also im Zusammenhang mit Mengen von realen Gegenständen. Und so lassen sich die natürlichen Zahlen auch charakterisieren.
Natürliche Zahlen als Eigenschaften endlicher Mengen
Natürliche Zahlen können interpretiert werden als Eigenschaften von endlichen Mengen, und zwar sagt eine natürliche Zahl etwas darüber aus, wie viele Gegenstände, Objekte oder Elemente sich in einer Menge befinden. Alle Mengen, die sich bijektiv auf die Menge {a, b, c} abbilden lassen, bilden eine Klasse, eine sogenannte Äquivalenzklasse. Bijektiv abbilden heißt, dass jedes Element der Menge genau einem Element der anderen Menge zugeordnet wird und dass dabei in keiner der beiden Mengen ein Element übrig bleibt.
Mengen, die sich bijektiv aufeinander abbilden lassen, haben die gleiche Mächtigkeit, die gleiche Anzahl von Elementen. Zur gleichen Äquivalenzklasse wie {a, b, c} gehören beispielsweise die Mengen {Tisch, Stuhl, Schrank} oder {Platon, Aristoteles, Kant}. Alle Mengen, die sich bijektiv auf die Menge {a, b, c} abbilden lassen, die also die gleiche Mächtigkeit wie {a, b, c} haben, bilden, wie gesagt, zusammen eine Klasse. Das Gemeinsame aller Mengen einer Klasse ist, dass sie alle die gleiche Anzahl von Elementen haben. Jeder dieser Klasse von gleichmächtigen Mengen kann deshalb eine Zahl zugeordnet werden, eine sogenannte Kardinalzahl.
Die Zahl 3 wäre somit die gemeinsame Eigenschaft aller Mengen, die die gleiche Anzahl von Elementen haben wie beispielsweise die Menge {a, b, c}. Die Zahl 4 würde die Menge {a, b, c, d} und alle Mengen, die die gleiche Mächtigkeit wie diese haben, charakterisieren usw. Auf diese Weise würde man unendlich viele Zahlen erhalten, da der Mächtigkeit der Mengen keine Grenzen gesetzt sind. Dies wäre eine mögliche Interpretation der natürlichen Zahlen. Die natürlichen Zahlen können als Eigenschaften von Mengen von realen Gegenständen gedeutet werden.
Eine andere Möglichkeit der Beschreibung
Die vorgestellte Methode wäre quasi eine anschauliche Variante zu erklären, was natürliche Zahlen sind. In der modernen Mathematik gibt es jedoch noch eine andere Methode diese zu definieren, nämlich die Begründung der natürlichen Zahlen über die Peano-Axiome.