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Was das Gehirn mit dem Gewicht zu tun hat

Sie sind Leiter der Forschungsgruppe The Selfish Brain Theory. Es geht um die Theorie, dass das „selbstsüchtige“ Gehirn für Gewichtsprobleme verantwortlich sein soll. Was hat Sie als Diabetologe bzw. als Experte für den Zuckerstoffwechsel dazu bewogen, Ihr Augenmerk auf das Gehirn zu richten?

Mich hat interessiert, was mit der durch die Nahrung aufgenommenen Glukose, also dem Traubenzucker, im Körper letztendlich passiert. Wenn man den Verlauf der Energielieferkette im menschlichen Organismus rekonstruiert, landet man zwangsläufig im Gehirn. Denn das Gehirn ist der Glukose-Verbraucher Nummer 1. Wenn das Gehirn in einen Energiemangel gerät, dann fährt es die Insulinausschüttung auf nicht mehr messbare Werte herunter. Kein Insulin bedeutet: Es wird keine Glukose mehr in die Körperzellen transportiert, es steht alles dem Gehirn zur freien Verfügung. Das Gehirn thront über allem und wird quasi wie eine Bienenkönigin bedient. Eine Studie hat gezeigt, dass bei stark abgemagerten Menschen sämtliche Organe bis zu 40% an Gewicht verloren hatten, das Gehirn aber nur maximal 1%. Das zeigt die Priorität des Gehirns.

Das Gehirn braucht Zucker

Wie viel Glukose bzw. Zucker braucht das Gehirn?

In Ruhe verbraucht das Gehirn 50% der im Blut zirkulierenden Glukose, im Stress sogar 80 – 90%. Das Gehirn wartet dabei nicht etwa passiv, dass ihm Glukose zugeteilt wird, sondern es manipuliert sehr aktiv den Energiestoffwechsel. Eine große Rolle spielt hierbei das individuelle Stressverhalten. Läuft hier etwas aus dem Ruder, kann auf lange Sicht Übergewicht entstehen.

Es gilt aber doch als unbestritten, dass Übergewicht aufgrund von Bewegungsmangel und falscher bzw. zu üppiger Ernährung entsteht?

Das Überangebot an Nahrung allein macht kein Übergewicht. Es kommt nur dann zum Übergewicht, wenn eine Störung im Gehirn vorliegt. Sehen Sie, es gibt doch viele Stubenhocker, die fast den ganzen Tag vor dem Computer verbringen und sich regelmäßig satt essen, aber kein Gramm zu viel auf die Waage bringen. Bei diesen Menschen ist mit dem Gehirn alles in Ordnung, und die Feinabstimmung klappt hier super: Durch die Nahrung wird genau das aufgefüllt, was zuvor vom Körper verbraucht wurde.

Übergewicht: Störung im Kontrollzentrum

Warum funktioniert diese Feinabstimmung im Gehirn mancher Menschen nicht?

Wir müssen davon ausgehen, dass schon im Mutterleib eine ungünstige Programmierung geschehen kann. Bisher hat man eben gesagt: Übergewicht ist erblich. Das ist ja auch nicht ganz falsch. Vererbt wird allerdings nicht das Übergewicht, sondern die Reaktionsweise des Gehirns. Wir unterscheiden zwischen dem perfekt regulierenden Gehirn, dem „selfish brain with high fitness“, dem eigensüchtigen, sehr fitten Gehirn, das selbst in mageren Zeiten und auf Kosten des übrigen Organismus körpereigene Energiereserven anzapfen kann. Dem gegenüber steht das „selfish brain with low fitness“, das dies nicht in ausreichendem Maße kann, sondern per Appetitsteigerung zusätzliche Nahrung anfordern und die Entstehung von Übergewicht in Kauf nehmen muss. Die weniger fitten Gehirne haben Störungen in den Kontrollzentren. Die bewirken, dass die Energiebeschaffung für das Gehirn weniger durch das Anfordern aus den körpereigenen Depots, sondern vielmehr durch Nahrungsaufnahme erfolgt, obwohl die Muskeln keinen Energie-Mehrbedarf haben. Man bekommt mehr Appetit – mit der „Nebenwirkung“ des Übergewichts.

Im Gehirn läuft etwas ein wenig schief

Ist auf diese Weise jegliches Übergewicht zu erklären?

Durchaus. Diese Beeinträchtigungen der Gehirnfunktionen kommen gar nicht so selten vor, haben aber nichts mit dramatischen Schädigungen des Gehirns nach einem Unfall oder durch eine Krankheit zu tun. Da gibt es verschiedene Mechanismen, die nicht ordnungsgemäß ablaufen. Entweder stimmt etwas mit den Nervenzellverbänden in der Gehirnrinde nicht oder untergeordnete Strukturen führen die Befehle falsch aus. Man könnte sagen: Das Gehirn ist nicht mehr Herr im eigenen Haus.

Warum kann Essen trösten?

Wenn das Gehirn in Stresssituationen einen so hohen Zuckerbedarf hat, wie Sie eingangs erwähnten, dann wäre es doch nur folgerichtig, bei Stress zu „futtern“?

Die Idee des tröstenden Futters ist sehr alt. Sie hat allerdings eine neue Dimension bekommen, seit man versteht, was hier neurobiologisch und biochemisch abläuft. Normalerweise wird durch die Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin mehr Glukose im Blut bereitgestellt. Hat das Gehirn allerdings Schwierigkeiten, den Zucker aus der Blutbahn anzufordern, signalisiert es starken Appetit. Viele Menschen haben die wohltuende Erfahrung gemacht, dass nach einem Snack – besonders nach einem süßen – ein angespanntes Gefühl nachlässt. Das Interessante: Offenbar versuchen vor allem Menschen, die dazu neigen, Konflikten auszuweichen, ihre psychische Anspannung durch Süßigkeitenkonsum abzubauen.

Ist also der falsche Umgang mit Stress daran schuld, dass so wenige Diäten dauerhaften Erfolg bringen?

Kuren zur Gewichtsabnahme haben tatsächlich einen erschreckend geringen Langzeiterfolg. Manche Experten sprechen von nur ein bis zwei Prozent. Wer dauerhaft abnehmen will, muss zweigleisig fahren: Er muss sein Gehirn wieder dazu bringen, Energie aus den körpereigenen Energiedepots anzufordern und nicht per Appetitsteigerung danach zu verlangen. Gleichzeitig ist es wichtig, Stress auslösende Probleme aktiv anzugehen und sich nicht von ihnen überrollen zu lassen.

So werden Heißhungerattacken seltener

Manche Menschen specken nach einer „dicken“ Phase konsequent ab und bleiben den Rest ihres Lebens schlank. Ist hier das Gehirn wieder Herr im Haus? Oder haben diese Menschen ihren Stress besser im Griff?

Beides. Gefühl und Vernunft – oder besser: bewusstes Wahrnehmen von Emotionen und einsichtsvolles Denken – sind eng verwoben mit den Nervenzellverbänden. Dieses Wechselspiel kann auf lange Sicht bewirken, dass Heißhungerattacken seltener und beherrschbarer werden. Aber der Weg dahin führt eben nicht über ein paar Wochen oder Monate, in denen man die Kalorien zählt. Es geht um grundlegendes Umdenken und das führt langfristig zu Veränderungen in Regelungsmechanismen des Gehirns.