Tausend Gründe, um zu einem Organspendeausweis nein zu sagen? Rationale, oft aber auch irrationale Argumente führen Menschen an, wenn sie auf Nachfrage hin erklären möchten, warum sie keinen Organspendeausweis mit sich führen.
Die Problematik ist hinreichend bekannt: Lang sind die Wartelisten von Patienten, die auf ein Spenderorgan angewiesen sind. Doch viel zu wenige Gesunde füllen den Spenderausweis aus, weshalb Deutschland noch immer „Importland“ für Transplantate ist und täglich bis zu drei Patienten sterben, die mit einem Spenderorgan gute Überlebenschancen gehabt hätten. Die zögerliche Bereitschaft, nach dem Tod als Organspender zu dienen, ist Ergebnis unterschiedlichster Bedenken und Befürchtungen; die Gründe sind so vielfältig wie das „Biotop“ der Menschen „bunt“ und voll von Individuen ist. Einblicke in das Panorama des Unwillens, der schalen Gefühle und diffusen Ängste verdanken sich dem persönlichen Gespräch mit Dutzenden von Menschen – es resultiert daraus ein Mischbild aus Abwehr und Unlust, religiösem Grundgefühl und politischem Standpunkt oder unterschiedlich aufgefasstem Verantwortungsgefühl. Nahezu immer aber zeigt sich, wie wenig rational viele von uns mit solchen Fragen umgehen, der sonst so gern beschworenen Rationalität und Aufgeklärtheit zum Trotz.
Freie Willenserklärung verlangt einen aktiven Schritt
Die in Deutschland geltende Zustimmungslösung verlangt, einen bewussten, aktiven Schritt zu tun. Ja, man sollte den Spenderausweis schon ausfüllen und bei sich tragen, heißt es nicht selten, aber Bequemlichkeit und noch nicht verbalisierte oder unklare Bedenken verhindern das erst einmal. Sodann wird geäußert, man unterschreibe damit etwas, entwickle aber in den folgenden Jahren vielleicht einen anderen Standpunkt und vergesse womöglich, dass das Dokument vorliegt. Wirklich weit verbreitet ist demgegenüber die Angst, der Organspendeausweis in der Brieftasche könne nach einem schweren Unfall Anlass dafür sein, vorschnell aufgegeben zu werden. Auch äußern Menschen, die sich der Frage durchaus ernsthaft gestellt haben, gelegentlich Zweifel am Kriterium des Hirntods: nicht einem toten, vielmehr einem sterbenden, damit aber noch lebenden Menschen würden demnach Herz und Nieren, Lungen und Leber, Bauchspeicheldrüse und diverse Gewebe entnommen.
Die Möglichkeit, im Ausland zu sterben bzw. dort schwer verletzt zu werden, nährt die genannten Ängste noch einmal, wo Menschen am ehesten Vertrauen in die Regelungen innerhalb der eigenen Gesellschaft haben. Andere neigen ohnehin dazu, alles wegzuschieben, was den eigenen Tod und das ihm vorausgehende Sterben betrifft. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Spendebereitschaft findet dann nicht statt. Lassen sich Menschen aber auf das vertiefte Gespräch darüber ein, so stößt man auf manch unerwartete Begründung, die so gar nicht zur formalen Bildung, dem sonstigen Auftreten und zu bekannt gewordenen Grundanschauungen des Betreffenden passen will. Nicht selten scheint sich der Gesprächspartner in der Situation zu fühlen, sich für seine ablehnende Haltung rechtfertigen zu müssen: ein „Nährboden“ für Rationalisierungen – jenen psychologischen Abwehrmechanismus, bei dem einem unguten, belastenden Gefühl eine möglichste plausible Begründung nachgeschoben wird, die vorher gar nicht im Bewusstsein des Betreffenden war.
Akzeptable Einstellung oder bloße Rationalisierung?
Selbst Menschen, die sich scheinbar von allen Elementen christlichen Glaubens distanziert haben, äußern das Verpflichtungsgefühl, komplett sein müssen, noch im Tod bzw. danach. Die Vorstellung, postmortal – wem gegenüber und wo auch immer – vielleicht doch das Fehlen eines Organs erklären müssen, markiert die eine Position; die andere stellt die Ästhetik in den Vordergrund und den Wunsch, wenigstens für die Angehörigen noch perfekt wirken zu wollen. Oder geht es auch um die Unfähigkeit und Abneigung, sich als „teildemontiert“, beschädigt und multipel amputiert vorzustellen? Der partielle Ausschluss selbst bei erklärten Organspendern lautet dann häufig, zumindest die Augen unversehrt zu belassen. Weiter geht demgegenüber der Unwille, die eigene Identität endgültig aufzugeben: Der Betreffende will nicht „lebendes Ersatzteillager“ sein. Die Vorstellung, ausgeweidet zu werden, ist hochgradig angstbesetzt, dabei alles andere als selten zu hören – als könne man darunter noch leiden, fühle die Prozedur, besähe sich hinterher womöglich das Ergebnis solchen „Ausschlachtens“. Erstaunlicherweise erfüllt jene, die positiv zur Organspende stehen, genau dieser Gedanke, dass gleich mehrere Patienten von der eigenen Organspendebereitschaft profitieren könnten, mit einem besonderen Gefühl der Zufriedenheit.
Religion und Spiritualität lassen hingegen höchst unterschiedlichen Einwand zu. Die Auferstehung, heißt es bisweilen, betreffe auch den Leib. Der Mensch sei gottgleich, sei Ebenbild des Schöpfers, was jede Verpflanzung eines Organs verbiete. Aber ist nicht lediglich die Seele gemäß christlichem Glauben unsterblich? Man stößt hier auf variantenreiche Argumentation und jedwede Auslegung der Bibel, wo sich unsere großen Volksreligionen bzw. Kirchen im Konflikt zwischen der Würde des Leichnams und dem Gebot, dem Schwerkranken bestmöglich zu helfen, längst für die Akzeptanz der Transplantationen ausgesprochen haben.
Das gesellschaftspolitische Argument gegen einen Organspendeausweis
Gesellschaftspolitisch motivierte Ablehnung der Organspende findet sich ebenfalls in diversen Varianten. Abscheu empfindet beispielsweise mancher schon angesichts des Gedankens, Dritte könnten daraus doch ein Geschäft machen. Andere wiederum verweisen auf das als ungerecht empfundene Verbot des Organhandels, das sie selbst nicht profitieren lässt – für die Blut- und Plasmaspende könne man Geld bekommen; für die Abgabe einer Niere, etwas Knochenmark und die Bereitschaft zur Organspende nach dem eigenen Tod gebe es hingegen nichts. Da fehlt denn nicht der Verweis auf den Schwarzmarkt, auf veröffentlichte Entgleisungen, auf die im Ausland teils akzeptierte vergütete Eispende. Auch hinsichtlich des Arguments, gerade der Schwarzhandel werde uninteressant, wenn es genügend freiwillige Spender gebe, scheiden sich die Geister. Damit aber kehrt das Moment des Dubiosen, des Zweifelhaften und Unethischen in die Debatte ein.
Organvergabe nicht anderen überlassen wollen
Nicht selbst entscheiden zu können, was mit den eigenen Organen geschieht, ist gelegentlich die letzte Waffe, die gesellschaftspolitisch bewusste oder vom pädagogischen Impetus durchdrungene Menschen zücken: kein Verständnis dafür, dass die Niere einem Mann zukommen könnte, der seine Frau schlug, volle Ablehnung der Vergabe von Transplantaten an Patienten, die bestimmten radikalen Parteien angehören, und keine Ersatzleber für den, der sich doch selbst das Organ mit seiner Lebensführung zerstört habe. Scheinbar historisch, möglicherweise ethisch motiviert, von anderen als fortschrittsfeindlich etikettiert ist schließlich der Hinweis jener, denen generell zu viel ist, was moderne Medizin heute vermag: Vor 100 Jahren habe es diese Möglichkeiten doch auch nicht gegeben.
Wer daran interessiert ist, dass möglichst viele Menschen ihre Bereitschaft zur Organspende erklären, muss auf all diese Bedenken eine überzeugende Antwort haben. Hier zeichnen sich offenbar Erfolge ab: Gemäß der jüngsten Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Organ- und Gewebespende hatten im Jahr 2001 12 Prozent der Befragten den Organspendeausweis ausgefüllt. Im Jahr 2008 waren es immerhin 17 Prozent, die das Papier bei sich trugen.