Wissenschaftler suchen nach Gründen. Ihre Theorien. Ein Kriminologe setzte den Grundstein, Mediziner, Juristen, Soziologen und Kulturwissenschaftler folgten: Warum lässt man sich in westlichen Gesellschaften tätowieren?
Der italienische Mediziner Cesare Lombroso behauptet 1876 in seinem Buch „Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung“ (deutsch: 1887), dass Straffälligkeit und Tätowierungen zusammenhängen. Zu diesem Schluss kommt er, als er in Persönlichkeitsstudien fragt: Existiert ein Zusammenhang zwischen körperlichen und moralischen Defekten? Lambroso prüft seine Probanden auch auf ‚freiwillige‘ Körpermerkmale. Jeder, mutmaßt er, der sich freiwillig mit einer Nadel die Haut aufritzen lasse, müsse wohl ein roher, dummer Mensch sein, kurz: ein Verbrecher. Für Lambroso ist eine Tätowierung ein Überbleibsel aus einer primitiven Zeit. Sie sei ein „atavistisches“ Merkmal eines „geborenen Kriminellen“.
Medizinische und juristische Sicht auf Tätowierungen
Nach Lambrosos Erkenntnis interessieren sich erst Ende der 1960er Jahre wieder vermehrt Wissenschaftler für Tätowierungen. Es sind primär Juristen und Mediziner. Untersucht werden vor allem die gesundheitlichen Folgen von Tätowierungen und ihre Bedeutung in der Gerichtsmedizin. Die Probanden sind in der Regel Vorbestrafte mit Tätowierungen. Die Ergebnisse sind wenig überraschend: Die Tätowierten, meinen die Forscher, verfügten über einen niederen Intelligenzgrad, litten an Persönlichkeitsstörungen und hätten einen Hang zu ungewöhnlichen Sexualpraktiken.
Tätowierungen in Subkulturen: Zugehörigkeit und Abgrenzung
Zu Beginn der 1970er Jahre geraten Sub- und Jugendkulturen in den akademischen Fokus. In vielen dieser kulturellen Gruppen, wie etwa bei den Punks, sind Tätowierungen weit verbreitet. In akademischen Studien sind Tätowierungen meist ein Teil innerhalb eines größeren Forschungsfeldes. Eine Tätowierung fungiert als Kennzeichen der Zugehörigkeitund der Abgrenzung. Durch ihre Dauerhaftigkeit sendet sie sehr starke Signale: Ich gehöre zu euch und grenze mich von jenen ab, die Tätowierungen und unsere Weltsicht verachten, ich rebelliere gegen die bürgerlichen Werte der Erwachsenenwelt.
Der Boom: Tätowierungen machen das Straßenbild bunter
In den späten 1980er Jahren präsentieren immer mehr Menschen ihre tätowierten Arme, Beine, Lenden oder sonstigen Körperteile in der Öffentlichkeit: Es sind weder Ex-Kriminelle, noch Mitglieder von Subkulturen. Jetzt entdecken auch vermehrt Soziologen, Psychologen, Kunst- und Kulturwissenschaftler die Tätowierung als eigenes Forschungsfeld. Jede Disziplin setzt andere Schwerpunkte, stellt andere Fragen, erhält unterschiedliche Antworten. Erklärungskonzepte, die oft ineinander übergehen, kommen hinzu:
Tätowierungen zwischen Individualität und Modeerscheinung
Ein speziell entworfenes Symbol oder eine Zeichnung, angebracht an einer besonderen Stelle, unterstreicht die Individualität des Trägers. Er setzt sich damit von der Masse ab.
Hingegen sind Motive, die etwa durch die Tätowierung eines Prominenten inspiriert wurden, eher ein Massenphänomen. Sie signalisieren: Ich bin modern und attraktiv.
Tätowierungen als Initiations-Ritus
Im christlichen Glauben markieren Riten, wie etwa die Kommunion oder die Konfirmation, einen neuen Abschnitt im Leben eines jungen Menschen. Religiöse Rituale verlieren in westlichen Gesellschaften jedoch stetig an Bedeutung: Das Tätowieren wird zum Akt der Initiation, die Tätowierung zum Symbol eines neuen Lebensabschnittes.
Tätowierungen als sexueller Stimulus
Der Zusammenhang zwischen Sexualität und Tätowierungen ist nicht neu. Beim Tätowieren wird Farbe in die Haut injiziert, und das meist unter Schmerzen. Der Vorgang des Tätowierens selbst ist ein intimer Akt, ergo kann auch das Ergebnis sexuell stimulierend sein.
Tätowierungen zur Trauma-Bewältigung
Im 21. Jahrhundert kommt eine neue Theorie dazu. Tätowierungen als eine Methode, um den eigenen Körper wieder zu spüren und zu besitzen. So zum Beispiel nach einer Vergewaltigung, wenn der freiwillig zugefügte Schmerz signalisiert: Ich entscheide selbst, was mit meinem Körper geschieht.