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Viktor Frankl: Liebe und Sex

Die Liebe erfasst den Partner in seiner ganzen Einzigartigkeit

Unter den Faktoren, die am meisten zu Potenz und Orgasmus beitragen, steht einer an der ersten Stelle, und das ist die Liebe.

Die Ehe und die Liebe scheinen eng zusammenzugehören. Denn es lässt sich mit Recht sagen, dass die Liebe im Allgemeinen die Bedingung und Voraussetzung einer glücklichen Ehe ist. Für Viktor Frankl stellt sich allerdings die Frage, ob ein auf Liebe aufgebautes Glück auch von Dauer sein kann. Um die Frage zu beantworten, muss er erst einmal klären, was Liebe eigentlich ist.

Das Phänomen der Liebe

Ist die Liebe wirklich nichts anderes als zielgehemmte Sexualität, wie Sigmund Freud meinte, und lässt sie sich wirklich nur auf die Sublimierung sexueller Triebenergien zurückführen? Um ein Phänomen wie die Liebe wirklich zu erfassen, bedarf es laut Frankl mehr als einer psychoanalytischen Deutung – die Liebe muss einer phänomenologischen Analyse unterzogen werden. In ihrem Rahmen erweist sich die Liebe als ein anthropologisches Phänomen ersten Ranges.

Die Liebe erfasst den Partner als ganze Person

Die Liebe ist für Frankl einer der Aspekte dessen, was er als die Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz bezeichnet. Er versteht darunter den grundlegenden anthropologischen Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, auf einen Sinn, den ein Mensch erfüllt, oder auf ein mitmenschliches Sein, dem er begegnet. Der Mensch verwirklicht sich nur selbst im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer anderen Person. Die Liebe erfasst laut Frankl den Partner nicht nur in seiner ganzen Menschlichkeit, sondern darüber hinaus auch in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit, und das heißt: als Person.

Die sexuelle Inflation

Frankl diagnostiziert ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Leere, dass sich in den Köpfen vieler Menschen, vor allem in den Industrienationen, festgesetzt hat. Er bezeichnet dieses Leeregefühl als ein existentielles Vakuum. In diese Leere hinein kann nun die sexuelle Libido wuchern. Damit erklärt Frankl die sexuelle Inflation, die alles zu überwuchern scheint. Im Zuge dieser Inflation wird die Sexualität entwertet, da sie entmenschlicht wird. Denn menschliche Sexualität ist mehr als reine Sexualität, da sie der Ausdruck für eine Liebesbeziehung ist.

Die Liebe sorgt für Potenz und Orgasmus

Frankl postuliert, dass der Tod einer Liebe untrennbar mit der Verminderung der Lust verbunden ist. Wo die Sexualität nicht mehr Ausdruck der Liebe ist, sondern zu einem Mittel zum Zweck reinen Lustgewinns wird, ist dieser Lustgewinn zum Scheitern verurteilt. Denn unter den Faktoren, die am meisten zu Potenz und Orgasmus beitragen, rangiert einer am höchsten, und das ist die Liebe. Im Interesse einer Optimierung des sexuellen Genusses, darf die Sexualität nicht isoliert betrachtet und aus der Liebe heraus gebrochen werden.

Der Missbrauch der Sexualität

Die menschliche Sexualität wird immer dann entmenschlicht, wenn sie als reines Mittel zum Zweck des Lustgewinns missbraucht wird. Nicht weniger liegt für Frankl ein Missbrauch vor, wenn sie als bloßes Mittel zur Fortpflanzung betrachtet wird – anstatt zu bleiben, was sie ist: ein Ausdruck der Liebe. Die Sexualität wird nur dann zur Krönung der Liebe, wenn sie nur zeitweilig in den Dienst der Fortpflanzung gestellt, dem zwangsweisen Geschäft der Produktion des Nachwuchses aber enthoben ist.

Kurzbiografie: Viktor Frankl

Viktor Frankl wurde 1905 in Wien geboren, studierte dort Medizin und arbeitete in den 30er Jahren auf der Station für Selbstmordgefährdete am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Gleichzeitig eröffnete er eine private psychiatrische Praxis. Von 1940 bis 1942 leitete er die Neurologie am Rothschild-Hospital. 1942 wurde er ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, später ins Lager Dachau verlegt und 1945 von den Amerikanern befreit. Nach dem Krieg wurde Frankl Leiter der Wiener Neurologischen Polyklinik, der er bis 1971 vorstand.

Viktor Frankl hatte außerdem Professuren an der Harvard University, der Stanford University sowie an den Universitäten von Dallas und Pittsburgh inne. Vortragsreisen, zu denen ihn insgesamt 208 Universitäten eingeladen hatten, führten Frankl nach Amerika, Australien, Asien und Afrika. Zu seinen erfolgreichen Büchern zählen unter anderen „Ärztliche Seelsorge“, „Das Leiden am sinnlosen Leben“ und „Der unbewusste Gott“. Seine 27 Bücher erschienen in 21 Sprachen. Allein von seinem Buch „Man`s Search for Meaning“ wurden über vier Millionen Exemplare verkauft. Viktor Frankl starb 1997.