Andere Kulturen haben auch eine andere Einstellung zum Sterben. Die meisten Kulturen sehen den Tod als Durchgangspforte in ein umfassenderes Leben.
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Hinausschiebens der Grenzen, nicht zuletzt jener der Endlichkeit, des Todes. Die Medizin kämpft gegen Krankheiten und schiebt damit die Lebenserwartung langsam vor sich her. Der Arzt kann Krankheiten überwinden helfen, der Patient lebt länger, aber der Tod ist unausweichlich – früher oder später. Das Thema ist bis heute ein Tabuthema geblieben. Der Tod wird verdrängt, im und außerhalb des Spitals. Immer wieder werden Menschen gefunden, weil einmal etwas nach außen dringt, nämlich Leichengeruch, Wochen nach Eintritt des einsamen Todes. Auch in unseren hochmodernen und technisierten Krankenhäusern will man den Tod oft nicht wahrhaben. Das sprichwörtliche Sterben am Gang, im Bad oder im Abstellraum gehört noch nicht völlig der Vergangenheit an.
Dieses Leben als Teil eines umfassenderen Lebens
Der Siegeszug der Naturwissenschaft hat bei uns dazu geführt, Leben als Funktion der materiellen biochemischen Basis zu sehen. Wer sich mit dem stofflichen Körper identifiziert, für den ist mit dem Tod „natürlich“ alles vorbei. Diese unsere materialistische Einstellung fördert die Angst vor dem Tod, ist aber einmalig in der Welt. Die meisten Kulturen – von den schamanistischen bis zur christlichen – begreifen dieses Leben als Teil eines größeren Lebens, aus dem wir kommen und zu dem wir zurückkehren. Oft wird dieses irdische Leben, etwa bei Platon, als Abglanz oder Schatten eines umfassenderen Lebens gesehen. Das kann im Extremfall dazu führen, dass Angehörige einer afrikanischen Gruppe auf Santa Lucia weinen, wenn ein Kind geboren wird. Es hat ja eine viel schönere Welt verlassen müssen.
Sterbehilfe auf Tibetisch
Auch für den Tibeter ist der Tod etwas Positives, der Tod ist dasselbe wie die Geburt. Für den Buddhisten kommt der Tod langsam und braucht Zeit, mehr Zeit als ihm bei uns zugestanden wird. Der Prozess des Sterbens ist aus tibetischer Sicht nicht mit dem klinischen Tod abgeschlossen. „Der klinische Tod ist nicht der endgültige Tod.“, sagt der in Italien lebende tibetische Arzt Dr. Nida Chenagtsang. Man muss den „Toten“ daher in Ruhe lassen, denn nachdem der äußere Atem erlischt, beginnt ein innerer Atem, eine innere Energie sich aufzulösen. Es geht um einen langsamen Prozess der Auflösung. Nach dem klinischen Tod darf der „Leichnam“ daher nicht gestört und nicht berührt werden.
„Wir helfen Menschen, richtig zu sterben“, erklärt Dr. Chenagtsang. Es gibt eine eigene Technik (po-wa), das Bewusstsein des Gestorbenen in die Parallelwelten zu geleiten. Diese Technik kann man für andere und auch für sich im eigenen Sterben anwenden. Daher ist es so wichtig, sich auf das Sterben vorzubereiten. Po-wa ist aber nicht nur eine Praxis für das Sterben, sondern auch für das Leben und für das Heilen. Der Tod steht aber in Tibet im Mittelpunkt des Interesses, betont die Tibetexpertin Dr. Adrea Loseries-Leick, Graz. „Es gibt die Luftbestattung (ein einfaches Aussetzen des Leichnams) und die Himmelsbestattung, bei der der Leichnam ordentlich zerhackt und für die Geier vorbereitet wird. Diese übliche Form der Bestattung ist auch ökologisch bedingt, weil es in Tibet Mangel an Holz zum Verbrennen gibt, drückt aber auch die Grundhaltung des Tibeters aus, nicht am Vergänglichen und am Körper zu haften, und dass man auch im Tod noch nützlich sein kann.“
Islam: Das wirkliche Leben kommt danach
Im Islam ist dieses Leben eine Zeit der Bewährung, der Tod ein Übergang, und das wirkliche Leben kommt danach. Es ist üblich, dem Sterbenden aus dem Qur’an vorzulesen, um ihn an die Barmherzigkeit Gottes zu erinnern. Der Leichnam wird würdevoll wie ein Lebender behandelt. Nach der rituellen Waschung wird der Verstorbene in weiße Baumwolltücher gehüllt. Das trotzdem oft übliche Schwarz widerspricht der islamischen Theologie. Schwarz ist die Farbe des Unbewussten, die meisten Völker sind aber nach „oben“ ausgerichtet. Die Farbe der geistigen Welt ist weiß. Die aktuellen Selbstmordattentate sind ein anderes grobes Missverständnis, denn auch der Qur’an verbietet den Selbstmord.
Indianer: Das Sterben üben
Für Indianer (die sich selbst als „native americans“ bezeichnen), sind Geburt, Sterben und Tod Teil desselben Prozesses. Sie glauben an einen Schöpfergott, und das Leben ist für sie ein ständiges Gebet. Ihre Natürlichkeit im Umgang mit Sterben und Tod kommt daher, dass sich Indianer mit der anderen Welt verbunden fühlen. „Die Geister unserer Ahnen sind ständig mit uns, in der einen oder anderen Form“, betont Reuben Silverbird. „Mit starker Konzentration, klarem Geist und Vertrauen ist die Kommunikation mit der spirituellen Welt möglich. Dazu sind keine Drogen notwendig.“ Für Indianer ist es normal, sich auf den letzten Tag vorzubereiten. Schon Kinder lernen sehr früh, dass das Leben ein Ende hat, und sie üben das Sterben. Wenn jemand stirbt, wird bei den Navajos noch heute der Schmetterlingstanz aufgeführt. Der Schmetterling gilt als Symbol für das ewige Leben.
Elisabeth Kübler-Ross: Es gibt keinen Tod
Ähnliche Einstellungen gab und gibt es aber auch im Westen, sogar mitten im Wissenschaftsbetrieb. Elisabeth Kübler-Ross, Fachärztin für Psychiatrie, ist mit 23 Ehrendoktortiteln wahrscheinlich die am häufigsten ausgezeichnete Wissenschaftlerin der Welt. Und das, trotzdem (oder weil?) sie am größten Tabu gerüttelt hat. Mitte der 1960er Jahre wagte sie es, sich an die Betten von Sterbenden zu setzen, 1969 wurde ihr Buch „Interviews mit Sterbenden“ ein Weltbestseller. Ihr Verdienst ist es, dass sie „den Tod und das Sterben aus der Toilette herausgeholt“ hat. Dass es in den USA 2500 Sterbehospize gibt, in denen Sterbende „auf die andere Seite“ gehen können. Denn nach ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit Sterbenden ist sie der Überzeugung: „Es gibt keinen Tod. Der Tod ist nur ein Übergang in eine andere Frequenz und ein wunderbares Erlebnis. Die Angst vor dem Tod ist unbegründet.“ Sie hatte selbst mehrere Nahtod-Erlebnisse, war auf der anderen Seite. „Ich weiß also, wovon ich spreche.“
Den Moment des Todes beschreiben Sterbende als ein befreiendes, schönes Erlebnis. Die im Westen verbreitete Angst vor dem Sterben kennen andere Kulturen nicht. Bei den Indianern, den Aborigines in Australien, den alten Leuten in Hawaii, aber auch bei den alten Bauern in der Schweiz und in Deutschland ist das ganz anders, sagt die weitgereiste Wissenschaftlerin. Sie überblicken ein Leben, das sie sinnvoll gelebt haben, damit haben sie auch keine Angst vor dem Tod, der ihnen Übergang in ein anderes Leben ist.
Sterben im Krankenhaus: Vom Exitus- zum Verabschiedungsraum
Im Spital ist auch das Sterben eine multikulturelle Angelegenheit. Gibt es damit (noch) Probleme? Dr. Franz J. Vock, katholischer Anstaltsseelsorger im Wiener AKH, beschreibt eine Art „Stafette“: Es ist immer noch so, dass Ärzte alles tun, solange noch eine Chance ist, wenn aber alles aussichtslos erscheint, „übergeben“ sie an die Seelsorge. Doch manches hat sich geändert. Schon früher gab es einen eigenen Raum für die Verstorbenen, doch der hieß „Exitusraum“. Heute gibt es einen solchen auf jeder Ebene, einen für je vier Stationen, doch die nennt man heute „Verabschiedungsraum“. Eindrucksvoller könnte man den notwendigen Wandel nicht benennen.
Im St. Johanns-Spital in Salzburg wurde auf Betreiben von Prof. Gerhard W. Hacker ein Verabschiedungsraum eingerichtet, der dann in Anspruch genommen werden kann, wenn die Angehörigen erst zu einem späteren oder zeitlich besonders ungünstigen Zeitpunkt eintreffen und eine Verabschiedung im Bereich der Station nicht mehr möglich war. Dieser Verabschiedungsraum ist sogar interreligiös ausgestaltet.
Umgang mit Krankheit und Tod
Andere Kulturen haben einen anderen Umgang mit Leid. Wenn ein Moslem in einem Krankenzimmer liegt, ist das an den vielen Angehörigen erkennbar. Krankenbesuche sind Pflicht für jeden Moslem. Etwaiges Misstrauen gilt weniger dem Spital, als der Ausgrenzung, die auch extramural (außerhalb) erlebt wird. Missverständnisse liegen oft an sprachlichen Schwierigkeiten, meint Andrea Saleh, Koordinatorin der islamischen Seelsorge im AKH, andererseits an speziellen Bekleidungs- und Essvorschriften. Letzteres gilt auch für jüdische Kranke und Sterbende. In beiden Religionen soll der Leichnam, wenn gesetzlich möglich, nicht einer Autopsie unterzogen werden. Viele Juden haben wegen ihrer Erfahrungen mit Antisemitismus Schwierigkeiten, ihre religiösen Bedürfnisse angstfrei zu äußern, bedauert Dr. Willi Weisz von der israelitischen Kultusgemeinde.
Die letzte Lebensphase ist die wichtigste
„Die Reife einer Gesellschaft wird daran gemessen, wie sie mit alten Menschen umgeht“, ist der norwegische Palliativmediziner Stein Husebo überzeugt. Daran gemessen, ist die moderne Zivilisation noch recht unreif, im Vergleich mit anderen Kulturen, auf die so gerne herabgesehen wird – was ja ebenfalls eher ein Zeichen der Unreife ist. „Als Intensivmediziner habe ich erkannt, dass die Medizin immer wieder an ihre Grenzen stößt und auch, dass die letzte Lebensphase wahrscheinlich die wichtigste ist. Doch viele Ärzte sind grausam und gucken beim Sterbenden einfach weg. Doch der Tod gehört zum Leben dazu. Für mich ist der Tod ein absoluter Höhepunkt im Leben.“ Mit dieser Einstellung trägt Prof. Husebo viel zur Nachreifung der Gesellschaft bei.