40 Millionen Deutsche gehen regelmäßig und stärken so ihre Ausdauer. Wer glaubt, Joggen oder Fußball seien die angesagtesten Sportarten, irrt. „Strecke machen“, am besten in Mittelgebirgslagen, trainiert den Körper besonders effektiv.
Welchen Sport treiben die Deutschen am liebsten? Schwimmen? Radfahren? Nach einer aktuellen Allensbach-Umfrage sind 40 Millionen von ihnen in einer Sportart unterwegs, die wegen dieser Bezeichnung von vielen belächelt wird. Die Rede ist vom Wandern. Nichts, was es auf dem Sportmarkt gibt, kann mit diesem Angebot konkurrieren. Sogar der Fußball gerät dabei ins Abseits. Und das Image vom dickbäuchigen, schwer atmenden Geher, der über ausgetrampelte Pfade den Gipfel des Winterbergs nur deshalb erklimmt, weil ihn dort ein kühles Blondes erwartet, ist passè. Um die Jahrtausendwende erlebte die Volksbewegung eine extreme Verjüngung. Jetzt ist es eine Akademisierung. Man trägt nicht nur einen Rucksack und Stöcke, sondern zunehmend auch Diplom- oder Doktortitel. Wer „Strecke macht“, ist offensichtlich schlau. Kein Wunder. Mehr Gesundheit geht nämlich nicht.
Wer geht, treibt Sport
Auch wenn es so manchen schwitzenden Kreisligakicker und übermäßig hechelnden Jogger ob des harten Trainings empört, sagt Rainer Brämer, Deutschlands Wanderpapst: „Wandern ist Sport! Beim schlichten Gehen verbraucht man pro Kilometer fast ebenso viel Energie wie beim zügigen Laufen. Entscheidend für den Energieverbrauch ist das mit jedem Schritt verbundene Anheben des Körpergewichts. Beim Laufen wird der Schwerpunkt zwar höher geliftet, dafür geschieht das im Vergleich zum Joggen wegen der größeren Schrittlänge bei gleicher Strecke seltener.“ Der Natur- und Wandersoziologe mit Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften an der Universität Marburg und Erster Vorsitzender des Deutschen Wanderinstituts e.V. schreitet sogar noch weiter, indem er feststellt: „Eine mäßige, aber regelmäßige Beanspruchung ist hohen sportlichen Leistungen vorzuziehen. Deshalb gilt das Wandern unter Sportmedizinern als optimaler Gesundheitssport, weil nahezu ohne jede Nebenwirkung Herz, Kreislauf, Stoffwechsel, Atmung, Muskeln und das gesamte Stützgerüst gestärkt werden und dabei zugleich das Risiko von Infarkt, Krebs und Diabetes nachweislich um mehr als 50 Prozent abnimmt. Doch bei zu viel Sport schlägt dieser Effekt ins Gegenteil um.“
Der Stiefel-Boom
Das haben offensichtlich viele begriffen, die es bisher vorzogen, den Tennis- oder einen anderen Schläger zu schwingen, die sich im Gym quälten oder beim Freizeitkick die Knochen hinhielten. Dem Weißen Sport kehren jährlich Aktive im unteren sechsstelligen Bereich den malträtierten Rücken, und die Mitgliedszahlen der Fitness-Studios stagnieren, wenn auch „auf hohem Niveau“ (5,4 Millionen). Selbst, wenn die von Rainer Brämer und Allensbach genannte Zahl von 40 Millionen Rucksack-Fans zu hoch erscheint, so ist der Boom des sportlichen Gehens nicht zu übersehen. Die Geschäfte der Anbieter von Outdoor-Equipment wie beispielsweise „Jack Wolfskin“ entwickelten sich in den vergangenen Jahren so gut, dass sich deren TV-Werbung mittlerweile wie selbstverständlich neben Persil und Warsteiner etabliert hat. Und der dazu gehörige Slogan „Draußen zu Hause“ scheint den Nerv der Konsumenten zu treffen. In Zeiten der Hatz um den Reibach, von Internet, MP3 und Google Earth, wo man sich die Details dieser Welt von ganz weit weg ansieht, sehnt sich die Masse anscheinend nach dem physischen Ausgleich: Natur begehen, sie anfassen, den Blick an ihr erfreuen und ihre Düfte genießen.
Wegen der eigenen Natur
So wundert es nicht, dass die von Rainer Brämer erforschte Akademisierung des Wanderns seinen Niederschlag auch in den entsprechenden Magazinen fand. „Focus“ kam ebenso wenig an dem Thema vorbei wie der „stern“ und „Der Spiegel“. Undsoweiter. Nachdem TV-Größen wie Hape Kerkeling oder Manuel Andrack es sich auch nicht verkneifen konnten, Bücher über die Faszination des beseelten Voranschreitens zu schreiben, gibt’s sowieso kein Halten mehr. Wer mit hochrotem Kopf und auf Runningschuhen wie „Air N’Sight II“ einer neuen Bestzeit entgegen eilt, sollte den Erkenntnissen angemessen deshalb vielleicht einen Gang runterschalten und auf dem Dachboden nach Opas alten Wanderstiefeln kramen. Denn der „Fußsport“, wie ihn Rainer Brämer nennt, bietet gegenüber vielen anderen Fitness-Disziplinen weitere, eklatante Vorteile. Brämer: „Entspannung, Begegnung, Freiheit, Entfaltung der Sinne. Während viele Sportler in ihren Hallen nichts als Wände erblicken, oder sich auf ihren Inlinern, Fahrrädern oder Joggingschuhen schnell an Allem vorbei bewegen, nimmt der Wanderer das Wesentliche in sich auf – das Kennenlernen anderer Menschen, die sich beim Abendessen in einem Hotel am Wegesrand über das Erlebte austauschen und das Reizvolle des Gesehenen kommentieren. Und sich über die geteilte Freude auslassen, die in diesem Fall die postive Verdoppelung bedeutet.“ Deswegen stellt sich – einem Soziologen gegenüber – die Frage: Wohin wandert das Wandern, was seine aufstrebende gesellschaftliche Bedeutung anbelangt? „Das Wandern hat einen so enormen Zulauf, weil viele versuchen, die eigene Natur wieder in der äußeren Natur zu entdecken, sich in der Gegenwelt des High Tech mit allen Sinnen wieder zu finden.“
Die Krönung: Fernwanderwege
Wofür es in Deutschland landschaftlich reichlich Gelegenheit gibt. Fern-, Mittel- oder Kurzstrecke, Hoch-, Bergland- oder gar kein Gebirge – es geht alles. Allein 37 Fernwanderwege, die alle unter professioneller touristischer Betreuung stehen, bedienen ihre wachsende Klientel. Obwohl: „Der Markt ist gesättigt“, stellt Brämer angesichts seiner vielköpfigen Begleiter fest. Und er hat ausgerechnet, dass pro erwandertem Kilometer immerhin zwei Euro an Schusters Rappen kleben bleiben. Im Verbrauchsmittel. Denn Vielwanderer wollen Abwechslung. War es am vergangenen Wochenende noch der „Rennsteig“, der Höhenweg im Thüringer Wald, der als der bekannteste gilt, soll es am nächsten der neu erschlossene Rheinsteig sein. Burgen und Schlösser, Höhen und Abstiege, Hotels und Absteigen, Sauerbraten und Pommes, Reblaus und Obstschnaps – am Rhein, wie schön – lockt Kilometergehen und Kulinarisches. Auf 320 Kilometern, zwischen Wiesbaden und Bonn. Oder der Rothaarsteig lockt, der „Weg der Sinne“, die 160 Kilometer-Durchquerung des Sauerlandes von Brilon nach Dillenburg am Rand des Westerwaldes.
Auch Kinder sind dabei
Es marschieren übrigens immer mehr Jugendliche und Kinder neben ihren Eltern durch Wälder und Auenlandschaften, weswegen es auf der Homepage von „Jack Wolfskin“ wie selbstredend ein Paar Wanderschuhe für eben diese Klientel zu bestaunen gibt. Zum Preis von 79 Euro. Aber dafür bieten sie auch „festen Halt“. Da kommt dann eben schon Einiges zusammen. Ausrüstung, Anfahrt, Abendessen, Etappen-Übernachtung. 320 Kilometer können finanziell deshalb ganz schön lang werden. Aber das macht nichts. Denn der „Fußsport“ stellt sich offensichtlich als die gesundheitliche Zukunft der Intelligenz dar. Die der statistischen Größe der Besserverdienenden. Und die hat’s ja. Allemal in den Beinen.