Beim Versuch, trockene Spaghetti zu brechen, zersplittern sie nicht in Hälften, sondern in unzählige Teile. Elastische Biegewellen sind die Ursache.
Spaghetti sind lang und man kann sie genüsslich aufrollen. Also: Spaghetti vor dem Kochen brechen? Unmöglich! So etwas machen versierte Köche nur im äußersten Notfall.
Und in der Tat ist es auch gar nicht so einfach. Versucht man nämlich sein Glück, indem man die trockenen Spaghetti an beiden Enden festhält und möglichst in der Mitte bricht, so entstehen beim Bruch nicht – wie erwartet – zwei Teile, sondern eine Vielzahl kleiner Bruchstücke.
Richard Feynman wollte das Spaghetti-Rätsel lösen
Das an eine schlichte Kinderfrage erinnernde Problem „Warum brechen Spaghetti in tausend Stücke?“ hat allerdings schon einige Wissenschaftler beschäftigt. Bereits der berühmte Nobelpreisträger Richard Feynman, der ein Faible für interessante Alltagsrätsel hatte, widmete sich der Frage. Als er eines Abends Nudeln mit seinem Freund, dem Computerspezialisten Daniel Hillis, kochte, stellte er fest, dass Spaghetti sich beim Durchbiegen nicht in zwei Hälften zerteilten, sondern in drei oder mehr Teile ungleicher Länge zerspringen. Einer Anekdote zufolge soll er mehrere Stunden damit verbracht haben, eine Erklärung für das Phänomen zu finden. Am Ende hatte er in der ganzen Küche zerbrochene Spaghetti, aber keine brauchbare Theorie. Vielleicht starten Sie dazu eigene Experimente, aber es gibt ein bisschen Chaos in der Küche…
Ein Fernsehinterview gab den Anstoß
Doch dann geriet diese physikalische Herausforderung irgendwie in Vergessenheit, bis zum Jahr 1991. Als in diesem Jahr der französische Physiker Pierre-Gilles des Gennes den Nobelpreis bekam, wurde er in einem Fernsehinterview gefragt, welche Probleme die Physik noch zu lösen habe. Mit etwas Übermut nannte er das Mysterium der zerbrochenen Spaghetti. Über diese Antwort war damals der Franzose Basile Audoly total verblüfft. Sollte eine so einfache Sache tatsächlich noch nicht erforscht sein? Nach seinem Physikstudium erinnerte er sich wieder an die „Küchenfrage“ und recherchierte erst einmal in der Fachliteratur. Zu seinem Erstaunen jedoch war das Feynman’sche Spaghettirätsel immer noch nicht gelöst.
Das Spaghetti-Rätsel mit Hochgeschwindigkeitskameras enttarnt
Daraufhin kaufte er mit seinem Kollegen Sébastian Neukirch sechs Packungen Spaghetti unterschiedlicher Stärke und lieh sich aus einem benachbarten Labor eine Hochgeschwindigkeitskamera, mit der sie 1000 Bilder pro Sekunde von dem schnellen Bruchvorgang anfertigen konnten. Sie führten Experimente mit den realen Spaghetti durch und filmten deren Bruch unter Biegung mit der Kamera. Die beiden fanden heraus, dass elastische Wellen hinter dem überraschenden Bruch der Pasta stecken. Für eine nähere Untersuchung konzentrierten sie sich nun auf den kritischen Moment des ersten Bruchs, der – diesmal wie erwartet – im Punkt höchster Krümmung auftrat. Dieser Bruch entspannt nun allerdings nicht die Reststücke, sondern die beiden Hälften der überdehnten Spaghetti schnellen zurück. Statt nur einfach zurück zu federn, zerspringt die Nudel nun in mehrere Stücke. Die Aufnahmen zeigten, dass das plötzliche Zurückschnellen elastische Biegewellen mit den unterschiedlichsten Wellenlängen entlang der beiden entstandenen Hälften auslöst.
Die Macht der elastischen Biegewellen
Wie kommen jedoch die weiteren Brüche, das Zersplittern, zustande? Die Wellenberge dieser Biegewellen überlagern sich nun an diversen Stellen des jeweiligen Spaghettirestes, wobei einige der Wellen an den festgehaltenen Enden reflektiert werden. An Stellen auf der Spaghetti, an denen sich Wellenberge überlagern und dadurch überhöhen, entstehen erneut Orte mit extremer Krümmung. Das Material wird dort über seine Festigkeitsgrenze hinaus gedehnt, es bricht. Es kann vorkommen, dass solch ein Bruch sogar an mehreren Stellen nahezu gleichzeitig auftritt. Man erhält mehrere Bruchstücke, die erneut Biegewellen erzeugen. Eine Kaskade von Fragmenten entsteht, manchmal zersplittert die Pasta unter den Biegewellen förmlich.
Computersimulationen bestätigten die Beobachtungen der Forscher, konnten jedoch die genauen Stellen der weiteren Brüche nicht vorhersagen. Der Grund hierfür ist, dass für den Bruch zusätzlich Unregelmäßigkeiten in der Spaghetti, also dünne oder spröde Stellen, die als „Werkstofffehler“ beim Herstellungsprozess entstanden sind, verantwortlich sind. Aber auch bereits existierende kleinere Oberflächenrisse im Pastamaterial, die sich unter Belastung rasch ausbreiten, sind von Bedeutung. Und die kann keine Simulation vorhersagen.
Ungewöhnlich ist das Ganze aber doch. Denn statt Entspannung des Materials nach dem Bruch herrscht bei den Spaghetti erneut starker Stress. Und ganz gelöst scheint das Problem auch noch nicht zu sein, denn etwas ist seltsam: Laut Theorie müsste jeder Bruch neue Biegewellen erzeugen und damit Brüche auslösen, so dass die Pasta letztendlich in unendlich viele Stücke zerspringen sollte. In der Realität entstehen jedoch nie mehr als zehn Bruchstücke, das bemerkte schon Feynman. Eine mögliche Erklärung ist, dass mit fortschreitender Verkleinerung der Bruchstücke auch die Biegewellen kleiner ausfallen. Ihre Frequenzen werden höher, die Amplituden der Wellenberge kleiner. Die Spaghetti werden von ihnen dann zwar ordentlich durchgewalkt, die Energie reicht für einen Bruch jedoch nicht mehr aus.
Bruchphysik in der Materialforschung
Manchmal offenbaren sich beim „Knacken“ alltäglicher Phänomene physikalische Erkenntnisse mit tiefer Bedeutung und Tragweite auch für andere Bereiche. So fragt es sich, ob die Spaghetti-Ergebnisse auch auf andere Materialien wie Fiberglas, Keramiken oder Metall übertragen werden können. Derartige Werkstoffe werden für viele Anwendungen genutzt und die Bruchmechanik dieser Materialien ist noch nicht restlos erforscht. Ärgerlich, wenn die Stangen des neuen Zeltes brechen würden wie Spaghetti oder eben wie dünne Glasstäbe, die übrigens ein ähnliches Verhalten zeigen.
Sollten Sie einmal in einer Kochtopf-Notsituation Spaghetti vor dem Kochen zerbrechen müssen, dann verfolgen Sie diese (intuitiv richtige) Methode: Man fasse einige Spaghetti direkt neben der anvisierten Bruchstelle und knicke sie dort so sanft wie möglich in zwei Teile. Das klappt im Allgemeinen ganz wunderbar, weil man durch den mehr oder weniger festen Griff die Ausbreitung der elastischen Wellen verhindert und so das weitere Bruchunheil vermeidet.
Und dafür einen Ig-Nobelpreis
Die französische Forschergruppe hat im Jahr 2006 mit ihrer Spaghettiuntersuchung den Ig-Nobelpreis gewonnen. Diese Preise werden, als Gegenstück den zu echten Nobelpreisen, seit mehr als 10 Jahren in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts verliehen. Der Name entstand aus dem englischen Wort „ignoble“, das mit „schmählich“ oder „unwürdig“ übersetzt werden kann. Aber schmählich ist die Auszeichnung keineswegs, denn immer wieder werden Forscher ausgezeichnet, deren auf den ersten Blick abwegig erscheinende Untersuchungen ernsthafte wissenschaftliche Hintergründe haben. Mit dem Preis soll eher Ungewöhnliches, Erfinderisches, Einfallsreiches oder Fantasievolles gewürdigt werden. Und so wurde schon so manches Forschungsergebnis prämiert, das die Leute erst zum Lachen und dann doch noch zum Denken brachte. Die meisten Forscher empfinden es daher eher als Ehre, einen Ig-Nobelpreis zu bekommen und halten dann Kurzvorträge über ihre jeweiligen Erkenntnisse. Bei der Verleihung sind oft auch echte Nobelpreisträger zugegen, die die Preise überreichen.
Lust auf mehr? Lesen Sie Feynman und das Spaghettirätsel und sehen Sie sich Videos zum Spaghetti-Bruch an. Auch der Ig-Nobelpreis ist ein durchaus ernst zu nehmender Preis für Wissenschaftler. Und bei Harte Weihnachtsplätzchen zeigt sich, dass Physik und Essen durchaus etwas miteinander zu tun haben. Bei der Kerze unter Glas kommen Sie dem Geheimnis des aufsteigenden Wassers auf die Spur.