Immer mehr coole Großstadtmenschen arbeiten in atypischen Arbeitsverhältnissen der Kreativwirtschaft ohne Festanstellung und Sozialversicherung. Die Psyche jedoch leidet.
Schöne neue Zeiten in der Arbeitswelt. In den Berliner Szene Stadtteilen Prenzlauer Berg und Friedrichshain sieht man seit wenigen Jahren eine neue Spezies von arbeitender Bevölkerung. Sie sitzen tagsüber in einem Café mit WLAN-Anschluss (kabellos) vor Ihrem Laptop. Sie haben oft scheinbar entspannt einen Latte Macchiato vor sich stehen, das Getränk der hippen Großstadtmenschen von Berlin, Hamburg-Sternschanze oder München. Und sie müssen auch nicht dauernd den griesgrämigen Sachbearbeiter vom nächsten Büroschreibtisch mit seinen abgewetzten Ärmelschonern und grauem Gesicht (aufgrund von Sonnenmangel) sehen. Sie sitzen dafür in der warmen Jahreszeit mit dem Notebook, Tablet-PC oder Smartphone im Sonnenschein mit einer eiskalten Bionade.
Neue Selbständigkeit: kein Schutz der Sozialversicherung
Aber auch sie sitzen dort nicht nur aus Spaß an der Freude, sondern müssen arbeiten: meist für das nächste Projekt. Sie schreiben an der neuen Werbe- oder PR-Kampagne für die Agentur oder am neuen Buch. Sie produzieren den neuen Video Clip für die Filmfirma. Nein, heißt es auf Nachfrage, festangestellt sei man nicht. Die Sicherheit der international führenden deutschen Sozialversicherung im Falle von Arbeitslosigkeit, Alter (Rente) oder Unfall können sie im Falle des Falles nicht in Anspruch nehmen. Sogar ein neuer Begriff wurde von Arbeitsmarktexperten für diese Art von Beschäftigung kreiert: Neue Selbständigkeit.
Hipper Freelancer in der Kreativbranche
Dafür ist man aber ein hipper Freelancer (neudeutsch wie so vieles in der Kreativwirtschaft für: freier Mitarbeiter) und kann die Zeit frei einteilen. Halt, so frei ist man dann doch nicht, der erbarmungslose Agentur- oder Firmenchef beziehungsweise Verleger drängelt ja schon und droht bereits damit, sich an einen der Tausenden anderen Freelancer aus den Szenebezirken zu wenden. Diese suchen auch händeringend Aufträge, gerade jetzt in der Wirtschafts- und Finanzkrise mit ihren starken Einbußen im Werbebudget der Kundenunternehmen. Wenn man nicht spurt, das heißt oft bis spätabends arbeitet, um die stets engen Deadlines zu schaffen, sich zuviel Urlaub herausnimmt, auf andere bestehende Rechte pocht oder gar länger krank wird, dann ist man eben entbehrlich geworden.
Von Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft
Noch ist der mobile Arbeitsplatz, außer in den genannten Szenebezirken in deutschen Großstädten, die Ausnahme. Aber in der Zukunft wird er zur Normalität werden, sagen Arbeitsmarktexperten. Die deutsche Industriegesellschaft wandelt sich zur Wissens- und Informationsgesellschaft. Industriegebiete werden zu Brachen, in Deutschland bereits in Berlin und anderen Städten zu sehen. Ganz extrem ist es in Detroit, USA (ehemalige „Motorcity“). Die ehemaligen Fabrikgebäude verfallen oder werden in New York, London und Berlin zu schicken Lofts umgebaut, die als Wohnung für Gutsituierte dienen, als ihre Kreativwerkstatt/Agentur oder halt beides zusammen. So genau weiß man das nicht, nicht einmal sie selbst. Die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben verschwimmen bereits jetzt und in der näheren Zukunft noch viel mehr.
Psychische Krankheiten wie Burnout und Depression auf Vormarsch
Blöd nur, dass man beides so schwer trennen kann, das (Arbeits-) Cafe und die Freizeit, den Loft und die Privatwohnung. Da macht die archaische menschliche Psyche nicht so recht mit, die nach getaner Arbeit (erlegten Mammut) sich auf dem eigenen Sofa (am Feuer) gemütlich machen und entspannen will. Einfach mal abschalten, die Seele braucht das, auch im 21. Jahrhundert. Und dazu noch ist man dank der ach so schönen, coolen und nützlichen modernen Technik immer für den Chef und den Kunden erreichbar: Man bekommt es – leider – zwangsläufig an diversen Straßenecken, in U-Bahnen und Cafes mit. So entstehen immer mehr psychische Krankheiten, die laut allen Statistiken von großen Krankenkassen in den letzten Jahren zu immer mehr Fehlzeiten führen: Burnout, Depression usw.
Dies führt zu immensen volkswirtschaftlichen Schäden, was dem ach so dynamischen Agenturchef oftmals herzlich egal ist, da er Profit machen will. Vor allem aber ist das Heer der arbeitslosen beziehungsweise geringverdienden Kreativarbeiter so groß und scharrt bereits vor seiner Tür oder steht gar auf Abruf bereit – um sich genauso ausnutzen zu lassen, wie seine Vorgänger. Dafür fährt man ja auch (als gutverdienender Teil, nicht die Regel) das neueste Modell des Minis und wohnt im besagten Loft. Man geht in die angesagtesten Szene-Clubs und kann dort attraktiven Damen bzw. Herren einen ungewöhnlich und interessant klingenden kreativen Jobtitel in Denglisch vorweisen.
Statt sicherer Festanstellung atypisches Arbeitsverhältnis: Neoliberalismus?
Man hat nicht mehr die Segnungen einer Festanstellung von mehr als 30 Wochenstunden („Normalarbeitsverhältnis“). Jetzt arbeiten laut den Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bereits gut 36 Prozent aller Erwerbstätigen in atypischen Arbeitsverhältnissen wie Minijobs, Teilzeitarbeit und Zeitarbeit. Manche tun es der Kindererziehung wegen, die meisten aus Not, weil für sie im deutschen Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts sonst kein Platz mehr.
Gewerkschaftler und Politiker des linken Spektrums kritisieren, da der Anteil der Festangestellten an der Gesamtbeschäftigung innerhalb von 20 Jahren von 72 auf 58 Prozent sank, von einer neoliberalen Fehlentwicklung. Diese sei von vielen Arbeitgebern und so manchen „bürgerlichen“ Parteien beabsichtigt. Diese Gegenseite spricht wiederum von einem liberalisierten Arbeitsmarkt, der auch geringer Qualifizierten Chancen bietet. Schöne neue Zeiten in der Arbeitswelt.