Es klingt wie ein Szenario aus einem billigen Horrorfilm: ein Parasit verschafft sich unbemerkt Zugang zum Körper eines größeren Lebewesens und breitet sich darin bis in den letzten Winkel, Augen inklusive, aus. Der unfreiwillige Wirt mutiert zu einem Zombie, der nur darauf ausgerichtet ist, nach den Wünschen seines Untermieters zu agieren.
Um so etwas vorzufinden, muss man nicht unbedingt nach Hollywood fahren, sondern lediglich seine Aufmerksamkeit unter Wasser lenken. Denn genau dort findet man den Übeltäter: Sacculina carcini, zu deutsch Rankenfußkrebs, ist dank seiner überragenden Fähigkeit zu komplexen Metamorphosen und Manipulationstricks ein raffiniertes Beispiel für Parasitismus im Tierreich.
Vom eigenständigen Lebewesen zum Parasiten
Der Rankenfußkrebs lebt nicht durchgängig parasitisch, wie es beispielsweise bei verschiedenen Blut- oder Leberegelarten der Fall ist, sondern vollzieht in einer einzigen Generation die Umwandlung von eigenständigen Meeresbewohner zum Parasiten. Sein Larvenstadium verbringt der Rankenfußkrebs ohne Beziehung zu seinem Wirtstier, der Krabbe.
Zur Einnistung in den Wirtskörper sticht der weibliche Rankenfußkrebs in eines der weichen Gelenke der Krabbe und entsendet einen Bruchteil seiner selbst, vergleichbar mit einer winzigen Schnecke, ins Innere der Krabbe. Ohne ihre ursprünglichen Gliedmaßen, Segmente, Kopf und Maul lässt diese sich auf der Unterseite der Krabbe nieder und bildet mit der Zeit ein dichtes Rankengeflecht, mit dem sie der Wirtskrabbe Nährstoffe aus dem Blut saugt.
Schlechte Presse
Die komplex Umstellung ihrer Lebensweise verschaffte der Sacculina anfangs äußerst schlechte Presse. Der Evolutionsbiologe Roy Lankester stellte 1879 mit Entsetzten in der Metamorphose der Sacculina einen, wie er es formulierte, Abstieg auf der Evolutionsleiter, ein Regredieren vom Tier zur Pflanze, fest. Vier Jahre später griff der Schriftsteller Hernry Drummond diesen Gedankengang auf und prangerte den Formwechsel des Rankenfußkrebses beim Einnisten in den Wirtskörper als fatalen Bruch des Evolutionsgesetzes an, da statt einer kontinuierlichen Weiterentwicklung ein gegenteiliger Prozess stattfände.
Selbst Konrad Lorenz konstatierte der Sacculina 1989 noch eine „retrograde Evolution“ oder „Sacculinasation“, welche er mit Kenntnisverlusten gleichsetzte.
Heute hingegen wird die Metamorphose der Sacculina als die radikalste Form der Häutung angesehen, bei der ein Großteil des Körpers als Hülle zurückgelassen wird.
Kastration der Krabbe zum eigenen Nutzen
Die Metamorphose vom Krebs zur Ranke ist jedoch nicht der einzige Trick, den der Rankenfußkrebs auf Lager hat. Ist die Zeit der Paarung gekommen, dringen männliche Rankenfußkrebse in derselben reduzierten Form wie das Weibchen in die Krabbe ein und befruchten ohne Unterlass Eier. Diese werden in einer Ausbuchtung auf der Unterseite der Krabbe gelagert – exakt dort, wo die Krabbe ihre eigenen Eier deponieren würde. Fortan handelt die Krabbe nach ihrem artspezifischen Mechanismus der Brutpflege: Sorgfältig schützt und reinigt sie die Parasiteneier und entlässt schließlich die lebensfähigen Sacculinalarven durch Auf- und Abhüpfen in der Strömung ins freie Meer, haargenau so, wie sie mit ihrem eigenen Nachwuchs verfahren würde.
Zur eigenen Fortpflanzung ist die Sacculina-gesteuerte Krabbe hingegen nicht mehr fähig. Ihr gesamtes Handeln dreht sich um die Brutpflege ihres Parasiten.