Das Locked-In-Syndrom ist schwer zu diagnostizieren. „Der Spiegel“ berichtet von einem Belgier, der 23 Jahre lang als Wachkomapatient behandelt worden ist, obwohl er bei vollem Bewusstsein war.
1983 erlitt der Belgier Rom Houben, Student in Lüttich und erfolgreicher Judoka, mit 20 Jahren bei einem Autounfall einen Herzstillstand. Rom war zunächst klinisch tot, wurde reanimiert, war dann vollkommen gelähmt, aber bei klarem Bewusstsein. Da er keine Möglichkeit hatte, sich bemerkbar zu machen, ist er als Wachkomapatient eingestuft und entsprechend behandelt worden. 2006, nach 23 Jahren, bemerkte der Neurologe Steven Laureys die Fehldiagnose.
Die besondere Schwere dieses Falles und das Aufsehen, das er in Belgien erregte, führten dazu, dass Rom an dem Filmprojekt „To walk again“ des Regisseurs Stijn Coninx über Marc Herremans teilnahm, dem ersten Rollstuhlfahrer, der den Iron Man auf Hawaii beenden konnte, zusammen mit dem Schauspieler Christopher Reeve.
Rom Houben kann seine rechte Hand noch etwas bewegen und sich inzwischen mit Hilfe eines Computers verständlich machen. Er gab dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ein Interview für die Ausgabe vom 23. November 2009.
23 Jahre im eigenen Körper eingeschlossen – das Locked-In-Syndrom
Was kann man tun, wenn man in seinem Krankenhausbett liegt, bei vollem Bewusstsein, wenn aber alle glauben, man befinde sich in einem vegetativen Zustand?
Rom hat sich mit dem wenigen beschäftigt, was ihm zur Verfügung stand. Er hat die Ärzte bei ihren Visiten beobachtet. Er hat dem Schwatzen der Schwestern zugehört – und er ist der Ansicht, er habe dabei viel über Menschen gelernt. Er hat Tagträumen nachgehangen oder meditiert. Er hat gelernt, sich völlig von seinem Körper abzukoppeln und sich als reines Bewusstsein zu fühlen.
Natürlich hat er auch versucht, sich bemerkbar zu machen; es ist ihm aber nicht gelungen. Den Tag, an dem sein Zustand entdeckt wurde, bezeichnet er heute als seine zweite Geburt.
Bewusstseinsreste bei 40 Prozent der Wachkomapatienten
Steven Laureys, Neurologe und Koma-Forscher, hat für eine Studie 44 Wachkoma-Patienten untersucht. Sie alle waren als eindeutig vegetativ eingestuft worden, das bedeutet: Die Hirntätigkeit ist so stark vermindert, dass es keine bewusste Reaktion mehr gibt, nur noch unbewusste Reflexe. Rom Houben war zweifellos seine spektakulärste Entdeckung, aber bei 18 der 44 Patienten stellte er ebenfalls Bewusstseinsreste fest. Sie waren mehr oder weniger ansprechbar. Bei Rom Houben zeigte eine Computertomografie, dass sein Gehirn noch fast vollständig funktionierte.
Seiner Ansicht nach liegt hier ein „Fehler im System“ vor. Wer einmal als vegetativ oder appallisch eingestuft worden ist, wird dies nur schwer wieder los. Dabei gebe es „Graustufen in der Nacht des Bewusstseins“.
Steven Laureys hat ein umfangreiches wissenschaftliches Werk zu seinem Spezialgebiet veröffentlicht.
Neurologe und Koma-Forscher Steven Laureys
„Jeder Patient sollte mindestens zehnmal geprüft werden, bevor man ihn endgültig als vegetativ einstuft“, sagt der Leiter des Zentrums für Komaforschung an der Universität Lüttich. Im Interview mit dem ORF erklärt er, dass manche Patienten aus dem Koma wieder auftauchen und dabei verschiedene Stadien durchmachen.
Nach einigen Tagen oder Wochen des Komas wird entweder der Hirntod eintreten, der Patient wird im Wachkoma liegen oder sich vielleicht über die Stadien des minimalen Bewusstseinszustandes allmählich erholen. Unter diesen verschiedenen Arten genau zu unterscheiden ist deshalb wichtig, weil der Arzt daraus die Chancen auf Genesung und die optimale Behandlung ableiten kann.
„Dann gibt es noch das Locked-in-Syndrom. Diese Patienten sind aus dem Koma erwacht und haben ihr volles Bewusstsein wiedererlangt, können aber oft nur noch ihre Augen bewegen.“
Und dieser Zustand ist naturgemäß am schwierigsten zu diagnostizieren. Elektroenzephalographie, Positronen-Emissionstomographie und funktionale Magnetresonanztomographie sind die Geräte der Wahl; sie zeigen elektrische Aktivitäten im Gehirn, wenn bestimmte Namen genannt, wenn Aufgaben gestellt werden. Es wird damit getestet, was passiert, wenn der Patient in Ruhe ist und wie er auf derartige Reize reagiert. Computer sind dabei eine große Hilfe. Sie können außerdem dazu benutzt werden, einem vollständig gelähmten Menschen wie Rom Houben die Kommunikation mit seinen Mitmenschen zu ermöglichen.