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Rollenspiel – ab ins Mittelalter

Jedes Wochenende treffen sich bundesweit hunderttausende Kopfkämpfer. Sie würfeln, denken und lösen gemeinsam Problemsituationen. „Befreie die Prinzessin von Morgau aus den Fängen des Drachens!“, heißt es dann. Nächtelang!

Zwölf Stunden oder noch länger dauert es manchmal, bis die Rollenspieler ihren Fall gelöst haben. „Befreie die Prinzessin von Morgau aus den Fängen des Drachens!“, kann der Auftrag lauten. Oder: „Finde heraus, wer den Goldhändler umbringen will und rette den Bedrohten!“ Selbstredend darf man die rund 40 Mitglieder des „Rollenspielclub Tornesch 94 e.V.“ als etwas verschroben bezeichnen – dagegen hat Carsten Praefcke nichts. Dafür spielt das Gründungsmitglied, der im nahen Hamburg eingeschriebene 29-jährige Student der Physik, seine Rolle als mittelalterlicher Kaufmann des gelben Edelmetalls schon zu lange.

Diese Würfel fallen anders

Er ist so sehr in seiner Parallelwelt, in der Weite des Phantastischen und Kreativen aufgegangen, dass man sagen kann: Er wurde ein Realist des Irrealen. Und wenn Praefcke seine speziellen Würfel herausholt, dann ist man verblüfft: 16-kantige sind im Spiel, achtkantige, normale Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Würfel, pyramidenförmige. Man versteht es nicht. Aber Praefcke wäre nicht Praefcke, wenn er das nicht flugs erklären könnte: „Die verschiedenen Spiele, für die es jeweils eigene Regeln, eigene Spielbücher und unterschiedliche Spielstärken gibt, haben auch ihre jeweils eigenen Würfelformen.“

Immer dabei: Knabberkram und Cola

Jeden Sonnabend kann man sich in der Norddeutschen Kleinstadt Uetersen, der Nachbarstadt der Vereinsheimat der Rollenspieler, ein Bild davon machen, was das heißt: Dann treffen sich die Rollenspielclub-Mitglieder, die zwischen 13 und 30 Jahre alt sind, im dortigen Stadtwerkehaus und frönen ihrer Leidenschaft. Dabei sitzen sie zu zehnt an Tischen, verkörpern ohne Kostüme jeder eine genau festgelegte Rolle und müssen versuchen, die gestellte Aufgabe mit ihrer Kreativität und der zuweilen langjährigen Erfahrung zu lösen. Und mit Unmengen von Knabberkram, Cola und Limo. Alkoholisches bleibt ebenso draußen wie spielbegleitende Aggressionen. Dass beim Rollen-Wettstreit niemand übertreibt und behauptet, er könne beispielsweise über einen 50 Meter breiten Fluss springen, darüber wacht immer ein Spielleiter aus den eigenen Reihen. Notfalls wird die Situation mit den eingangs erwähnten Würfeln entschieden.

300.000 Spieler in Deutschland

Aber wer nun glaubt, Carsten Praefcke sei ein „ewiger Student“, der seine Zeit mit Surrealem vergeudet, irrt. Er arbeitet beständig am Diplom und will so bald wie möglich als Physiker von der Uni abgehen, um dann „im Bereich der erneuerbaren Energien zu arbeiten“. Als Teenager kamen er und sein Zwillingsbruder Claus zum Rollenspiel, das Anfang der 70er Jahre in den USA entstand, etwa zehn Jahre später auch in Deutschland Fuß fasste und mittlerweile überall im Land seine Anhängerscharen hat. Und einen übergeordneten Verein, der bundesweit agiert, den „Allgemeinen Deutschen Rollenspieler Verein e.V.“ (ADRV) in Hannover. Dessen Vorstand, Christian Fischer, schätzt die Zahl der bundesweit aktiven „vorsichtig“ auf etwa 300.000, die sich beispielsweise bei „Das schwarze Auge“ oder „Shadowrun“ entspannen. Erhebungen gäbe es nicht, dafür sei in der Branche zu wenig Geld im Spiel. Zähle man allerdings diejenigen mit, die sich vor Jahren mal ein Rollenspiel-Buch zugelegt haben, es aber nur gelegentlich zur Hand nehmen, lande man schnell bei bis zu drei Millionen Akteuren.

Sie arbeiten ehrenamtlich

Das bestätigt auch André Wiesler, der Chefredakteur des einzigen deutschen monatlichen Magazins zum Thema. „Envoyer“ (Auflage: 4.000 Exemplare) entsteht bis auf eine Aufwandsentschädigung für den redaktionellen Kopf ehrenamtlich. Das sei es auch, was die Szene auszeichne, sagt Wiesler: „Sie ist ausgesprochen friedlich und die Leute sind hilfsbereit, die eigene Weltanschauung bleibt bei den Treffen vor der Tür. Ich habe es erlebt, das ein Skin, ein Punk, ein Türke und eine bekennende Emanze miteinander spielten und keinerlei Probleme aufkamen.“ Denn was die Faszination ausmache, das sei die Möglichkeit, phantastische Geschichten mitzuerleben und sie nicht wie bei anderen Medien „passiv zu rezipieren“. Noch mehr Spaß macht es natürlich, ein Rollenspielbuch zu schreiben. Wiesler hat’s getan. Es heißt „Lodland“.

Endzeit-Szenarien trainieren das Gehirn

Um die 30 Euro kosten die Bücher, die man braucht, um in mittelalterliche Szenarien einzutauchen. Es gibt sie aber in allen Genres: SciFi, Fantasy, Endzeit, Realwelt, Cartoons, um nur einige zu nennen. „Und weil wir uns das auf Dauer nicht leisten konnten, kamen wir damals auf die Idee mit dem Verein“, erklärt Carsten Praefcke, der auch stolz darauf ist, als gemeinnützig anerkannt zu sein, „weil wir ja Jugendliche und Erwachsene sozusagen darauf trainieren, Problemlösungen zu finden. Und über die Mitgliedsbeiträge war es dann möglich, dauerhaft die Regelwerke anzuschaffen, die alle Mitglieder nutzen können.“

Mit 16 Jahren schon Vereinsmeier

Mit 16 Jahren waren die Praefcke-Brüder bereits Vereinsmeier, die in ihrer Heimatstadt anfingen, aber später, als die ihnen zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten anderen Zwecken dienen sollten, ins wenige Kilometer entfernte Uetersen ausweichen mussten. Richtig glücklich sind sie in der Nachbarstadt allerdings nicht. Das Dach des öffentlichen Gebäudes, in dem sie sich treffen, ist undicht. „Es regnet hinein. Und als ich bei der städtischen Verwaltung anrief, die ja für das Gebäude zuständig ist, fragte man mich, wie sehr? Und ich sagte: in Strömen! Es ist aber niemand gekommen.“

Ein bisschen ernster nehmen

Vielleicht sollte man Carsten Praefke trotz seines jungenhaften Aussehens seitens der Verwaltung etwas ernster nehmen. Er ist nicht nur ein überdurchschnittlich fleißiger Student und jemand, der vorbildlich Jugendarbeit leistet, sondern auch noch ein hervorragender Organisator. Zu der im vergangenen Jahr von ihm mitgestalteten, mehrtägigen „NordCon“ in Hamburg, des europaweit größten Treffens der Rollenspieler, kamen 7.000 Besucher. Von denen sich keiner über undichte Unterkunfts-Dächer beschweren mußte, obwohl sie fast alle privat untergebracht waren. In der Rollenspiel-Gemeinde hilft jeder jedem. Auch die Prinzessin dem Goldhändler.