„…kennst du einen guten Physiotherapeuten?“ „Der in der Nordstraße ist gut. Der ist nämlich Holländer. Die sind ja auf dem Gebiet eh besser als die deutschen.“ „Ja, das hab ich auch schon oft gehört. Ich glaub da werd ich mal hingehen.“ – So lockt bereits der holländisch klingende Name einer Physiotherapie-Praxis oftmals eine große Zahl Patienten mit dieser Einstellung an. Doch woher kommt diese Denkweise überhaupt? Ist diese Mentalität auf persönliche Erfahrungswerte gestützt oder überträgt sie sich aufgrund allgemeiner Klischées?
Deutsche Physiotherapie und Bürokratie
Grundsätzlich bestehen im Bereich Physiotherapie gewisse Unterschiede zwischen den Nationalitäten Deutschland und den Niederlanden: Ein Patient in Deutschland sucht mit seinem Rückenleiden beispielsweise zunächst einen Orthopäden auf. Dieser untersucht, diagnostiziert und behandelt gegebenenfalls die bestehenden Beschwerden nach seinem Ermessen und verschreibt, sofern indiziert, eine Verordnung für krankengymnastische Behandlungen. Ein solch klassisches Rezept umfasst meist einen Umfang von 6 Therapie-Einheiten à 30 Minuten, die ein bis zwei Mal pro Woche stattfinden sollen. All diese Variablen sind somit per Verordnung durch den überweisenden Arzt je nach Erkrankung festgelegt. Der behandelnde Physiotherapeut hat sich während des Behandlungsverlaufs und dessen Gestaltung an diese Vorgaben zu halten.
Niederländische Kollegen machen sich selbst ein Bild
Anders sieht dies im Nachbarland Holland aus: Der gleiche Patient sucht mit seinen Rückenbeschwerden einen Physiotherapeuten direkt auf. Dieser ist im Stande, selbstständig und ohne Überweisung zu entscheiden, ob das Beschwerdebild des Patienten in sein Gebiet fällt, welche und wie viele Behandlungsmaßnahmen hierbei geeignet wären oder ob gegebenenfalls weitere ärztliche Maßnahmen durchgeführt werden müssen. Hierzu werden in der Organisation einer niederländischen Physiotherapie-Praxis spezielle Zeiten für eine erste Kurzuntersuchung, namens „Screening“, eingeräumt. Der Therapeut beschließt hiernach, ob und inwiefern die Erkrankung physiotherapeutisch zu behandeln ist und legt die entsprechenden Variablen fest. Ist das Beschwerdebild des Patienten jedoch nicht eindeutig zum Gebiet der Krankengymnastik zu zuordnen, so werden dem Patienten weitere diagnostische Maßnahmen durch Spezialisten empfohlen. Somit arbeitet der niederländische Physiotherapeut deutlich freier und selbstständiger und genießt dadurch einen anderen Stellenwert und ein anderes allgemeines Ansehen als sein Kollege in Deutschland.
Unterschiede in der Ausbildung
Diese Vorgehensweise erfordert natürlich eine große Verantwortung und Kenntnis auf Seiten des Therapeuten. Niederländische Physiotherapie-Studenten absolvieren im Rahmen ihres Studiums daher verschiedene Workshops, die die hierzu erforderlichen Fähigkeiten schulen. Ein Ausbildungsaspekt, das den deutschen Physiotherapeuten gänzlich fehlt. Durch diese Schulung entsteht oftmals ein eher ganzheitlicher Blick auf den Patienten, wodurch eine spezifische Behandlung möglich wird. Ein Trend, der sich zunehmend auch in der deutschen Physiotherapie-Ausbildung etabliert. Die Einstellung, deutsche Physiotherapeuten seien die schlechteren, ist nicht unbedingt aus der Luft gegriffen, jedoch in Anbetracht der Tatsache, dass in Bezug auf die Behandlungserfolge bei deutschen und holländischen Physiotherapeuten keine prägnanten Unterschiede zu verzeichnen sind, nicht gerechtfertigt. Eine gute Praxis sollte sich daher aufgrund von Empfehlungen und persönlichen Erfahrungen etablieren und nicht auf der Basis eines niederländischen Inhabers ausgewählt werden.