Welchen Stellenwert haben Individuum und Kollektiv in den globalen Gesellschaften? – Ein interkultureller Vergleich der Nationen.
Wesentlicher Bestandteil des interkulturellen Managements ist es die länderspezifischen Verhaltensweisen, Erwartungshaltungen und Umgangsarten zu kennen. Dieses Wissen basiert auf der Grundeinstellung der Einwohner eines Landes zum Individuum und Kollektiv. In Ich-Gesellschaften steht die eigene Person, das Individuum als eigenverantwortlicher Handlungsakteur im Vordergrund. Hingegen in Wir-Gesellschaften versteht sich der Einzelne als Teil der Gemeinschaft und vertritt daher die Interessen des Kollektivs. Im interkulturellen Vergleich der Nationen lässt sich der Grad der Individualisierung statistisch bestimmen (Skala 0 bis 10, wobei:10=Höchstwert).
Nationale Verhaltensmuster und Verhandlungsstrategien
Nationale Verhaltensmuster und Verhandlungsstrategien beruhen oftmals auf der Identitätsfrage der jeweiligen Handelspartner. Die Mitglieder kollektivistischer Gesellschaften haben ein ausgeprägtes Wir-Bewusstsein, in dem die Harmonie der Gruppe Vordergrund steht. Diese Gruppenidentität nimmt in Verhandlungsfragen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung. Dem gegenüber sieht sich der Individualist als unabhängiger und selbstbezogener Unternehmer in eigener Sache, der seine Entscheidungen nach persönlichem Ermessen trifft.
Der Erfolg einer Verhandlung ist abhängig von der Identität des Gesprächspartners. Mittels der kulturspezifischen Kenntnis des Gegenübers lässt sich das Ergebnis der interaktiven Aushandlungsprozesse positiv beeinflussen. Dies betrifft sowohl das Ausarbeiten von Vorschlägen und gemeinsamen Unternehmungen, als auch die Übernahme von Projekt-Verantwortlichkeiten, sowie arbeitsdienlichen Small Talk. Grundsätzlich ist festzustellen, dass im Kollektiv die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Standpunkte und Denkbewegungen der Gruppe die wesentlichen Handlungsfaktoren einnehmen. Demgegenüber zählen in der ich-bezogenen Verhandlungsweise mehr der Aspekt der Führungsqualität und die Faktoren Ehrlichkeit und Auftreten.
Deutschland im interkulturellem Vergleich
Deutschland ist im interkulturellen Vergleich nach Grad der Individualisierung mittig einzuordnen mit leichter Tendenz zu mehr Eigenständigkeit (Skalenwert 6). Im deutschen Geschäftsleben spielen die Faktoren Repräsentation und soziokultureller Hintergrund nachwievor eine gewichtige Rolle. Bei der Präsentation neuer Geschäftsideen ist es für deutsche Unternehmer beispielsweise wichtig zu wissen, im Auftrag welcher Firma diese entwickelt wurden. Im Lebenslauf eines deutschen Bewerbungsschreibens wird auch nach dem Berufstand der Eltern gefragt.
Ebenfalls leicht oberhalb der Mitte (5-6) zuzuordnen sind die Länder Slowenien, Frankreich und Italien. Genau mittig oder leicht unterhalb (4-5) liegen die Länder Brasilien, Japan, Indien, Polen und Russland. In Russland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion hat seit dem Scheitern der Ideologie des Kommunismus und der Planwirtschaft ein soziales Umdenken stattgefunden, das wegrückt vom Kollektiv hin zum Individuum. Auffallend ist die relative Nähe der Skalenwerte bei den europäischen Nationen.
Der amerikanische Self-Made-Man
Der amerikanische Self-Made-Man verinnerlicht das Menschenbild des modernen Arbeitsnehmerunternehmers (Skalenwert 10). Als Unternehmer in eigener Sache ist es sein größtes Interesse seine eigene Person bestmöglich zu verkaufen. Frei nach dem Motto „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ verfolgt er den amerikanischen Traum des selbstgemachten Erfolgs. Unter Arbeit versteht er in der Regel ein zeitlich befristet Projekt im Sinne des Job. Seine Identifikation mit Unternehmen und Arbeitsplatz ist meistens relativ gering ausgeprägt.
Einen ähnlich hohen Individualisierungsgrad (9) weisen die Einwohner Großbritanniens auf. Der Grund hierfür ist wohl vor allem an der historisch und politisch engen Bindung zu den USA. Im oberen Drittel der Skala (7-8) liegen außerdem die Länder Kanada und die Niederlande.
Chinesische Einheit
Chinesische Einheit beschreibt das Absolut der kollektiven Gesellschaft (Skalenwert 0). Die Meinung und Ansichten des Einzelnen sind nahezu bedeutungslos, es zählt allein der gemeinschaftliche Wille. In Geschäftsgesprächen sorgt dieser Umstand teilweise für Irritationen, da es mitunter schwer ist ein Verhandlungsgegenüber zu bestimmen. Gerade in diesen Situationen sind die Kompetenzen des interkulturellen Managements gefragt.
Einen ähnlich niedrigen Individualisierungsgrad (2-3) weisen die Einwohner Singapurs und – womöglich etwas überraschend – Portugals auf. Dies ist insofern ungewöhnlich und bemerkenswert, da Portugal als Teil Europas eher dem Kollektiv zugeneigt ist. Interessant wäre es in diesem Zusammenhang die kulturellen Gründe für dieses Ergebnis zu kennen.
Wichtig ist zu beachten, dass die hier vorgestellten Werte auf statistisch quantitativen Beobachtungen beruhen, die nationale Verhaltensmuster festgestellt haben. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen können als Hilfestellung angesehen werden, sollten jedoch nicht verabsolutiert werden.