Zwischen Mangel an Gefühlen und Image-Überschuss. Wenn das Image wichtiger als eigene Gefühle ist, geht der Bezug zum wahren Selbst verloren. Ein Narzisst glaubt, dass die Welt sich um ihn dreht.
Pate für alle vom Narzissmus Betroffenen steht ein antiker Schönling Namens Narkissos. Er weckte in vielen die Liebe, selbst aber erwiderte er sie nie. So konnte auch die schöne Bergnymphe Echo sein Herz nicht erobern. An dem Liebeskummer ging sie schließlich zugrunde. Nur ihre Stimme blieb übrig, „die in bergigen Gegenden als klagender Widerhall immer noch ihr dürftiges Dasein fristet“ *). Für die Verschmähung der Nymphe wurde Narkissos von Aphrodite, der Göttin der Schönheit und Liebe, hart bestraft. Sie verdammte ihn … zur Liebe. Aber was für eine! Narkissos sollte unter unstillbarer Liebe zum eigenen Abbild leiden. So geschah es auch und in der Folge starb er daran. Nach dem Tode verwandelte er sich in eine betäubend duftende Narzisse.
Die griechische Sage trifft den Kern des Narzissmus: Mangel an Gefühlen des Betreffenden. Nicht nur für andere, auch für sich selbst. Die Behauptung, dass narzisstische Menschen nur sich selbst lieben, ist falsch. Sie „lieben ihr Image, nicht ihr wirkliches Selbst“. Wie sie anderen erscheinen ist ihnen wichtig, nicht was sie selbst fühlen.
Frei von Gefühlen
Ist es Freiheit, nicht zu fühlen? Nicht lieben, nicht zweifeln, nicht trauern, stattdessen cool sein. Wenn aber der coole Typ nichts fühlt, kann er auch nicht verstehen, was andere fühlen. Er verabschiedet sich nicht nur vom eigenen fühlenden Selbst. Er wird unempfindlich gegenüber den Gefühlen anderer.
Die Verleugnung von Gefühlen zeigt sich als Unabhängigkeit und Stärke. Bedeutet dies aber eigentlich nicht, sich von seinem lebendigen Fundament abzuschneiden und von der Menschlichkeit zu verabschieden?
Wahres Selbst und Selbstbild
Um seine Erscheinung sorgt sich zwar jeder Mensch, dennoch geht in einem Narzissten etwas anderes vor. In diesem Falle handelt es sich um eine „Verschiebung der Identität vom Selbst auf das Image“. Und das ist bei weitem nicht das gleiche. Zwischen dem Selbst und dem Selbstbild gibt es solch einen Unterschied „wie zwischen dem Menschen selbst und seinem Spiegelbild“. Der Narzisst identifiziert sich mit seinem idealisierten Selbstbild. Infolgedessen verliert er den Bezug zu seinem wahren Selbst.
Bei alledem scheint ein Narzisst nicht glücklich zu sein. Wie könnte er auch: Die wahren Bedürfnisse eines Menschen werden „nie durch ein Image, eine Vorstellung befriedigt“. Ein Narzisst stellt lediglich eine geschönte Fassade zur Schau. „Gleichgültig, wie wirksam seine Fassade ist, er wird innerlich unsicher bleiben, solange er von seiner Fassade abhängig ist“. Ein narzisstischer Mensch ist ähnlich einem Schauspieler, der aus der fiktiven Rolle nicht mehr herauskommt und sie für Wirklichkeit hält.
Da ihm das Selbstgefühl dadurch fremd wird und er sich im gewissen Grade als unwirklich erkennt, empfindet er das Leben als leer und sinnlos.
Sind wir alle etwas narzisstisch?
Ein auf diese Art gestörter Mensch, der weder über Gefühle für andere noch für sein Selbst verfügt, kann sehr gut funktionieren und wirklich erfolgreich werden. Er zeigt Ehrgeiz in gleichem Maße wie eine bewusste oder unbewusste Tendenz zur Ausbeutung und Unbarmherzigkeit gegenüber den Mitmenschen. Diese Eigenschaften erweisen sich als nützlich, wenn man streng und ohne Rücksicht durchgreifen oder durchregieren soll. Beim Streichen von Arbeitsplätzen, beim Entlassen von Mitarbeitern stünden Gefühle nur im Wege.
Charakteristisch für einen Narzissten ist das Streben nach Macht und Herrschaft. Natürlich darf man nicht behaupten, dass jeder, der nach Macht greift, vom Narzissmus betroffen sei. Diese Ambition in sich entzieht sich einer Bewertung; sie ist weder positiv noch negativ. Entscheidend ist die Frage des Zwecks und der Mittel. Für einen Narzissten dreht sich alles um ihn. „Der Narzisst wird zu seiner eigenen Welt und glaubt, die ganze Welt sei er“. Um sein Ziel zu erreichen, schreckt er nicht von zweifelhaften Methoden wie Manipulation, Lüge und Verführung; in extremen Fällen sogar vom Verbrechen.
Die Macht wird zum Ersatz von Gefühlen. Und sie verleiht erst dem narzisstischen Menschen die Energie, die er braucht. Überdies dient sie dafür, sein „Selbst-Image aufzublähen, das ohne sie wie ein leerer Ballon zusammenfallen würde“.
Die moderne Gesellschaft, von „Bildern verhext“, scheint sich mit dem Narzissmus gut arrangiert zu haben und das Verhaltensmuster, das dem Gewinn, der Karriere alles unterordnet, zu unterstützen (die Extremformen ausgenommen). Müsste man daher die Zurechnungsfähigkeit unserer Kultur nicht anzweifeln?