Der Psychotherapeut und Ethnologe Tobie Nathan behandelt psychisch erkrankte Migranten, indem er psychoanalytische Ansätze mit traditionellen Heilmethoden verbindet.
1993 eröffnete Tobie Nathan das „Centre Georges Devereux pour les familles migrantes“ (CGD) der 8. Pariser Universität in St. Denis bei Paris. Finanziert wird es unter anderem durch die Universität und erhält außerdem Unterstützung von der ‚Mutter + Kind-Stiftung‘ . Definiertes Ziel des Zentrums ist dabei, psychologische Hilfe für Migrantenfamilien zu leisten.
Nathan und seine ethnopsychiatrische Theorie
Seine ersten ethnopsychiatrischen Publikationen verfasste Nathan zusammen mit Prof. Libovici, bei dem er zu diesem Zeitpunkt arbeitete und forschte. Danach veröffentlichte er eine Reihe eigener Arbeiten und später auch einige in Zusammenarbeit mit seiner Schülerin und späteren Mitarbeiterin M.R. Moro, mit der er auch Ergebnisse aus ihren gemeinsamen ethnopsychiatrischen Forschungen in der Zeitschrift „La nouvelle revue d’Ethnopsychiatrie“, die er selbst mit begründet hat, veröffentlichte.
Neben seinen theoretischen Ansätzen, in denen er Devereux Konzept einer Kultur übergreifenden Psychologie aufgreift und weiterentwickelt, lassen sich in seinen Büchern auch viele Fallbeispiele finden. Seine Theorien erfahren im Laufe der Zeit eine Wandlung, die von einem starken psychoanalytischen Ansatz ausgeht, sich jedoch später immer mehr traditionellen Heilmethoden zuwendet, mit denen eine immer stärker werdende Kritik an der traditionellen individualistischen Psychoanalyse verbunden ist.
Nathans ethnopsychiatrische Familientherapie
Die Anzahl der Sitzungen pro Patient bzw. Patientengruppe ist sehr unterschiedlich, bewegt sich normaler Weise aber zwischen 3 und 15 Sitzungen. Die Länge der Sitzungen variiert. Die ersten Sitzungen sind dabei für gewöhnlich sehr lang, da sich alle Teilnehmer erst einmal vorstellen und kennen lernen müssen.
Die Teilnehmer eines Settings bestehen aus 10-15 Therapeuten unter der Leitung eines Haupttherapeuten, dem Patienten, seiner Familie und Mitarbeitern diverser psychosozialer Einrichtungen. Dabei sollte die Anzahl der Teilnehmer jedoch nicht mehr als 20 betragen. In der therapeutischen Gruppe gibt es außerdem immer einen sogenannten „mediateur“, also einen Vermittler.
Da die Patienten nicht mehr auf ihren kulturellen Rahmen und ihre Muttersprache zurückgreifen können, fehlt ihnen die Anlehnung. Die kulturellen Bezugspunkte werden in der Therapie hergestellt. Ein „mediateur“, der die Sprache des Patienten spricht, ist anwesend. Er ist der Übermittler zwischen zwei Welten und Denksystemen. So erklärt er der Gruppe auch die jeweils übliche Therapie in der Ursprungskultur der Patienten.
Neben den ethnopsychiatrischen Familientherapien, von denen zwei pro Tag stattfinden, gibt es parallel dazu auch Einzeltherapien, um die Gruppentherapie begleitend zu unterstützen.
Hilfe durch traditionelle Techniken und moderne Forschung
Das Besondere am CGD ist dabei, dass hier klinische Praxis, Forschung und Ausbildung miteinander verknüpft werden:
- Zur klinischen Praxis zählen Gruppenbehandlungen, Einzelbehandlungen, Hausbesuche und technische Gespräche.
- Zur Forschung zählen zum einen die Analysen der verschiedenen angewandten Techniken von Psychologen, Psychiatern und Sozialarbeitern, aber auch von Heilern, Priestern oder Gurus; zweitens finden anthropologische Feldforschungen zu psychologischen Störungen, aber auch anderen Krankheiten in verschiedenen Kulturkreisen statt, die sowohl von Ethnologen als auch von Psychologen und Ärzten durchgeführt werden.
So gab es 1999 Feldforschungen in West-Afrika (Benin, Senegal, Burkina Faso), Zentral-Afrika (Ruanda, Kongo, Kamerun), im Maghreb (Marokko, Tunesien, Algerien), im indischen Ozean (Reunion), in Latein-Amerika (Brasilien), in den französischen Antillen (Martinique, Guadeloupe) und in Süd-Europa (Spanien).
Auf diese Art sollen nicht nur die Psychopathologie, sondern auch die traditionellen Techniken aus den Ursprungskulturen der Migrantenfamilien, die zur Behandlung kommen, erforscht werden.