X

Mein Kind ist aggressiv! Was kann ich tun?

Ihr Kind ist angriffslustig und provoziert ständig? Ist Schimpfen die richtige Reaktion? Oder besser missachten? Tipps für Eltern aggressiver Kinder.

Sommer, Sonne, Strand: Chris schiebt selbstvergessen seinen Kipplaster durch den Sand. Er sieht zufrieden aus. Und während er leise ein Lied summt, kommt seine Mutter und reibt ihm unvermittelt Sonnenmilch auf den Rücken. Reflexartig schleudert er seiner überraschten Mutter eine Handvoll Sand ins Gesicht.

Hat sich das Kind aggressiv verhalten? Ja. War sein Verhalten falsch? Nein. Überrascht darüber? Der Verhaltensbiologe Bernhard Hassenstein hat die kindliche Aggression beobachtet und ausgewertet. Einige dieser Erkenntnisse könnten sehr hilfreich sein für das Verhältnis Eltern-Kinder.

Kindererziehung wird leichter, wenn Eltern mehr über kindliche Aggression wissen. Wie man mit angriffslustigen Kindern umgeht, das hat Professor Hassenstein untersucht. Seine Beobachtungen und vor allem seine Rückschlüsse können Eltern die Erziehungsaufgaben erleichtern. Was können Eltern also tun, wenn ihre Kinder aggressiv werden? Eine Super-Nanny ist ja nicht für jeden erreichbar.

Wie äußert sich Aggression?

Aggression gehört zum Menschsein dazu. Was viele nicht wissen: Aggression kann sich auch in einem festen Händedruck äußern, in standhaltendem Augenkontakt oder entschlossenem Tritt beim Gehen. Aggression kommt in jeder Familie in unterschiedlichen Ausprägungen vor. Mal wird sie mit Worten ausgetragen, mal werden Türen geknallt oder Gegenstände geworfen. Ein Streit kann zwar erbaulich und reinigend sein. Aber eben auch ungezügelt und zerstörerisch. Wenn die Beherrschung versagt, können Wutanfälle in Ausbrüchen körperlicher Gewalt enden. Zur Eskalation muss es dennoch nicht kommen, wenn man um einige Spielarten der menschlichen Natur weiß.

Welche Arten der kindlichen Aggressivität gibt es?

Auf diese Frage hat Bernhard Hassenstein Antworten gefunden. Der Verhaltensbiologe, der früher an der Universität Freiburg lehrte, beschreibt die Arten der kindlichen Aggressivität. Drei davon sind für die Kindererziehung von besonderer Bedeutung:

1. Angriff als Spiel – die spielerische Aggressivität

Kämpferische Angriffe sind oft Teil des Spielverhaltens, hat Hassenstein beobachtet und nennt ein Beispiel:

Kinder können ihre Mutter mit Schnee bewerfen, ohne ihr feindlich gesonnen zu sein. Lässt sich die Mutter auf das Spiel ein, ergreift spielerisch die Flucht oder geht gar zum „Gegenangriff“ über, habe das Kind sicher seinen Spaß, meint der Experte. Zu dieser Art Aggression gehört wohl auch das Toben, Ringen und Kitzeln, das spielerische Kräftemessen mit dem Papa.

Später seien Kampfspiele Teil der kindlichen Gruppenspiele, sagt Hassenstein. Auslöser dafür sei jedoch kein innerer Zwang nach kämpferischer Auseinandersetzung, sondern die Spielbereitschaft selbst.

2. Aggressivität als Antwort auf unbefriedigte Bedürfnisse (Versagung, Frustration)

Wenn sich Bedürfnisse von Erwachsenen und von Kindern nicht erfüllten, könne das zur Aggression beziehungsweise zu einem Angriff gegen das Hindernis führen; eine natürliche Reaktion, wie Hassenstein betont: Ziel der Aggression sei es, die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zu ermöglichen.

Nehmen wir das eingangs erwähnte Beispiel: Ein in sein Spiel vertieftes Kind soll seine geliebte Tätigkeit auf Geheiß der Eltern unterbrechen oder beenden. Dem Kind stellt sich plötzlich ein Hindernis entgegen, das Ihm das Glück des ungestörten Spiels versagt. Es reagiert aggressiv.

Damit diese Angriffslust gar nicht erst aufkomme, sollten Erwachsene einfühlsamer mit Kindern umgehen beziehungsweise auf sie reagieren, rät Professor Hassenstein.

Zum Beispiel so:

Eltern könnten das Spiel und damit die Integrität ihrer Kinder würdigen, indem sie sagen: „Noch eine Runde Autorennen fahren (noch einen Schuss auf’s Tor; noch drei Legosteine setzen usw.), dann kommst du essen.“

Das ist keine Bitte! Kinder wissen, dass man eine Bitte abschlagen kann. Die von den Eltern gewünschte Handlung ist alternativlos: Das Kind soll pünktlich das Haus verlassen zur Schule. Das Essen steht auf dem Tisch. Die Aufforderung bedeutet, langsam aus der Sebstvergessenheit aufzuwachen und die aktuelle Beschäftigung abschließen zu dürfen. Das Kind bleibt friedlich und verinnerlicht die Botschaft: Ich durfte konzentriert und ungestört spielen. Jetzt kommt gleich etwas Neues. Aber ich darf meine Tätigkeit zuerst abschließen.

Wenn ein Kind aggressiv werde, könne dies manchmal auch bedeuten, dass es sich von den Eltern abgrenzen und eigenständige Ziele verfolgen will. Eltern sollten dieses Verhalten achten. Zudem solle ein Kind, wenn es sich im Recht fühlt, argumentieren dürfen, so der Professor. Und – wenn es im Recht ist – von seiten der Eltern auch Recht bekommen.

3. Aggressivität als Mittel zum Auskundschaften des Verhaltensspielraums

Unerfüllte Bedürfnisse bei Kindern und ihre Folgen wurden bereits erwähnt. Was aber ist, wenn Kindern zu viele Bedürfnisse erfüllt werden? Sind dann die vorangegangenen Betrachtungen haltlos? Nein. Je mehr man Kindern erlaube, umso trotziger würden sie, konstatiert der Verhaltensbiologe. Es scheine, als wenn Kinder ausprobieren wollten, wie sie provozieren und wie weit sie bei ihren Eltern und anderen Kindern gehen können.

Laut Hassenstein gibt es damit eine Form von Aggression, die nichts mit verhinderter Wunscherfüllung zu tun hat. Verhaltensbiologisch sei dies keine Überraschung. Es wäre eher erstaunlich, wenn es eine solche Aggression beim Kind nicht gäbe, sagt er.

Der Biologe deutet diese Aggression so:

Das Kind kundschaftet Wesensarten und Reaktionen von Kindern und Erwachsenen aus. Es will die Grenzen des eigenen Verhaltensspielraumes kennenlernen und erweitern. Zugleich handelt es sich um ein Angreifen mit dem Ziel, eine höhere Rangstufe im Sozialverband oder der Familie zu erreichen. Das Kind will künftig mehr zu sagen haben.

Fazit

Gelassenheit und das Wissen um die Normalität der beschriebenen Formen von Aggression können das Verhältnis von Eltern zu ihren Kinder nachhaltig verbessern.