Zwei Autorinnen schreiben alles über Liebe und Sex: „Sex ist ein Abenteuer, und bevor es damit losgeht, können ein paar Informationen nicht schaden.“
Wozu ein Sex-Ratgeber? Auf dem Gebiet weiß doch jeder Bescheid. Und wer nicht alles weiß, schaut nach, um die Lücken zu füllen. Wo schaut man nach? Am häufigsten im Internet, das ohnehin alles weiß. Und alles meistens besser.
Halt! Ganz falsch, sagen Ann-Marlene Henning und Tina Bremer-Olszewski, die ein Aufklärungsbuch mit dem schlichten Titel „Make Love“ geschrieben haben. Es erinnert nicht zufällig an den Slogan, mit dem vor einem halben Jahrhundert die Nachkriegsgesellschaft ins Wanken gebracht wurde: „Make love – not war“. Friedensbewegung plus Lusterfüllung verbanden sich zu einer Symbiose, die zu dem führte, was heute als „sexuelle Revolution“ in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einging.
Der Aufschrei der Moralhüter war gewaltig, verhallte aber unter dem Getöse der Steine, die ins Rollen gekommen waren. Die Bettdecken wurden ordentlich aufgeschüttelt, und der Muff von – nun ja, vielleicht nicht tausend Jahren, aber einigen verdrucksten Dekaden zog durchs Schlafzimmerfenster davon. Oder besser: Durch die Fenster der Jugendzimmer, denn es war die Generation der Teenager und der „Twens“, die sich nicht mehr vorschreiben ließen, wann sie mit wem und wo ins Bett zu gehen hatten.
Die Nachkriegsgesellschaft wird aufgeklärt
Herrliche Zeiten brachen an. Oskar Kolle plauderte serienmäßig in den Zeitschriften „Quick“ und „Neue Revue“ über „Das Wunder der Liebe“ und Mann, Frau, Kind – die unbekannten Wesen (was den Zeitschriften einen immensen Auflagenschub bescherte). Ästhetische Fotos von schönen nackten Menschen illustrierten die Worte; Orgasmus und coitus interruptus wurden Smalltalk-Themen auf Partys.
Expliziter gab sich Günter Amendt 1970 in seinem links-radikalen Aufklärungsbuch „Sexfront“, in dem etwa die allmähliche Erektion bei einem Teenager wie in einem Daumenkino abfotografiert wurde. Kindgerechte Aufklärungsbücher aus Schweden gingen zu Hunderttausenden über den Ladentisch („Peter, Ida und das Minimum“), und ein Buch mit Fotografien von Will McBride machte seinem Titel alle Ehre: „Zeig mal“. 1974 veröffentlicht, geriet es im Zuge der zunehmenden Fälle von Kinderpornografie ab den 1990er Jahren in Generalverdacht. In Deutschland durfte es zwar weiterhin verkauft werden, aber in einigen Bundesstaaten der USA war allein der Besitz Grund genug, um im Gefängnis zu landen.
Die grenzenlose Nacktheit
Und dann kam das Internet – und mit ihm die grenzenlose Nacktheit. Die letzten Dämme brachen, und Tabu war auf einmal nur noch die Abkürzung für „Taschenbuch“. Die zügellose Pornografisierung der Gesellschaft setzte ein – und damit auch deren Verunsicherung in Bezug auf die Sexualität. Was man sich, oft kostenlos, auf dem heimischen Bildschirm anklicken und herunterladen kann, sprengt alle Vorstellungsgrenzen – und ist zum Zerrbild einer ins Absurd-Groteske pervertierten Sexualität geworden, bei der Männer immer können und Frauen immer wollen.
Höchste Zeit also, das richtigzustellen, sagten sich die dänische Sexualwissenschaftlerin und Psychotherapeutin Ann-Marlene Henning und die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin Tina Bremer-Olszewski. Deshalb haben sie den durchs Internet verunsicherten Heranwachsenden nun ein Buch an die Hand gegeben, in dem der Sex auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird. Und sie wollen „Menschen dazu anregen, ihr erotisches Potenzial auf der körperlichen und der emotionalen Ebene auszuloten, zu üben und zu entfalten“, wie es im Nachwort heißt.
Fingerübungen für Anfänger
Mithin ist ihr Ratgeber aufgebaut wie eine Klavierschule: Es beginnt mit einfachen Fingerübungen, um sich mit dem Instrument vertraut zu machen, und endet, um im Bild zu bleiben, bei vierhändig ausgeführten Meisterstücken. Auf dem Weg dorthin wird kein Problem ausgelassen, jede mögliche Frage direkt und unverblümt beantwortet – und, das Wichtigste: Neben der minutiös beschriebenen Technik wird auch den Gefühlen sehr viel Raum gegeben, denn erst diese Kombination macht den wahrhaft großen Pianisten aus. Dazu gehört fraglos auch die Aufregung und das Lampenfieber vor dem Auftritt, die manchmal derart groß sind, dass es mit der Vorführung dann doch nicht klappt – oder dass sie anders ausgeht als erhofft.
Denn dass es beim Kennenlernen von Liebes Leid und Lust eine Menge Pannen geben wird, auch darüber sprechen die Autorinnen. Daher legen sie ihren Leser(inne)n ans Herz, diese auf keinen Fall als Weltuntergang anzusehen: Rückschläge und Flops sind (nicht nur in der Lehrzeit) unvermeidlich, sondern begleiten die Menschen ein Leben lang. Das Buch ist mithin nicht nur ein Ratgeber, sondern auch ein Mutmacher für alle Menschen, wenn sie anfangen, sich für Sexualität zu interessieren.
Fotos, die alles zeigen
Ebenso offen und freimütig wie der Text sind die Bilder, welche die koreanischen Fotografin Heji Shin beigesteuert hat. Die in Berlin lebende Künstlerin hat Pärchen auf der Straße angesprochen und gefragt, ob sie sie beim Sex fotografieren dürfe. Viele, so Shin in einem Interview, hätten sofort zugesagt, andere ebenso rasch abgelehnt, und wieder andere sich Bedenkzeit erbeten, die manchmal mehrere Monate lang gedauert habe – und oft mit einer Absage endete. Was letztlich kein Wunder ist, gehört doch eine ziemliche Portion Mut und Selbstbewusstsein dazu, sich in einer so intimen und verletzlichen Situation einem fremden Menschen zu zeigen.
40 Paare, hetero- wie homosexuelle, hat sie am Schluss fotografiert, und die Bilder von 23 haben Eingang in das Buch gefunden – nur solche, mit denen die Akteure auch einverstanden waren. Auf den Fotos ist mithin Zärtlichkeit und Erotik zu sehen, aber eben auch explizit, was beim Sex nun mal abgeht. Der kleine Unterschied: Hier sind es keine gestellten Szenen wie im Pornomagazin, sondern Bilder aus dem wahren Leben. Und das verleiht ihnen nicht nur einen besonderen Reiz, sondern auch eine ganz eigene, unverfälschte Schönheit.