Die Essstörung – Symptom eines Familienproblems.
Essstörungen als Symptome für tiefer liegende Probleme in der Familie. Krankheitsmuster und Behandlungsansatz der systemischen mehrgenerationalen Psychotraumatologie.
Die Frage nach der „richtigen“ Ernährung wird in der westlichen Gesellschaft zunehmend thematisiert und zu einem Problem hochstilisiert. Das Gegensatzpaar aus nie da gewesener Nahrungsfülle und Schlankheit als Ideal beherrscht die Lebenswelt des modernen Menschen.
Die Essstörung als Symptom eines tieferen Problems
Nach den Ergebnissen der Mikrozensusbefragung 2003 sind hierzulande 41 Prozent der erwachsenen Frauen und 58 Prozent der Männer übergewichtig, 11 Prozent der Bevölkerung können sogar als krankhaft fettleibig bezeichnet werden (Pötzl, 2005).
Denn nicht nur Fettsucht, auch andere Essstörungen haben in den letzten 30 Jahren sehr stark zugenommen. Chronische Mangelernährung, beruhend auf einer übertriebenen Beschäftigung mit dem Gewicht, ist weiter verbreitet als man denkt, mitunter weil sie selten als abnorm erkannt wird. Sie tritt „im Gewand wünschenswerter Schlankheit“ (Bruch, 2001, S.260) auf.
Die „chronischen Abnehmer“ entgehen also länger einer Diagnose, da die Gesellschaft ihre magere Gestalt bewundert, sie werden medizinisch erst beachtet, wenn ihre Fehlernährung ihr Leben störend beeinflusst. Essen stellt demnach für viele weniger Genuss, als vielmehr ein Problem dar. Hungerwahrnehmung und Essen sind also keine rein biologischen Mechanismen, mit dem Ziel, dem Körper die benötigte Energie zuzuführen. Unsere Nahrungsaufnahme ist hochgradig emotional besetzt, und kann daher auch die unterschiedlichsten Funktionen für den einzelnen haben. Essen kann beispielsweise für Versorgung, Geborgenheit, Zuwendung, Gemeinschaft, Trost, Belohnung und auch Bestrafung stehen.
Das Gewicht zeigt die Seele
Viele Menschen sind mit ihrem Gewicht unzufrieden und machen daher Diäten. Aber nur wenige von ihnen entwickeln eine Essstörung, daher kann man davon ausgehen, dass hinter einer Magersucht mehr steckt als ein aus dem Gleis geratener Schlankheitswahn.
Dasselbe gilt auch für die Fettleibigkeit: Sie kann wohl auch organisch bedingt sein, etwa, wenn Übergewicht vorliegt, obwohl keine abnorme Kalorienzufuhr erfolgt.
Liegt es jedoch darin begründet, dass die Person einfach nicht aufhören kann zuviel zu essen, sie sogar von anfallsartigen „Fressattacken“ heimgesucht wird, kann man das Problem nicht mit mangelnder Disziplin erklären, geschweige denn durch ein Diät-Programm beheben.
Mit dieser Erkenntnis scheinen wir am Kern des Problems angelangt zu sein, dass es sich bei gestörtem Essverhalten nicht um mangelnde Disziplin oder mangelnde Bildung oder Informationszugänge handelt, sondern dass es psychosomatische Krankheiten mit Suchtcharakter sind. Vor allem Übergewicht wird häufig als Gesellschaftskrankheit abgetan und mangelnder Selbst-Disziplin gerechtfertigt, doch selten wird es als die psychosomatische Krankheit mit Suchtcharakter erkannt.
Die Krankheitsbilder der Essstörungen
Bekannt sind drei Krankheitsausprägungen, Magersucht (Anorexia nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimie), und Esssucht (Binge Eating Disorder, bzw. Psychogene Adipositas). Mittlerweile ist sogar schon eine vierte Ausprägungsform im Gespräch, die Orthorexia nervosa (vgl. Ney, 2004), die zwanghafte Sucht „gesund“ zu essen. Es wird vermutet, dass die strenge Nahrungsauswahl ermöglicht, Kontrolle auszuüben, die in anderen Lebensbereichen abhanden gekommen ist. Die Fixierung auf gesundes Essen könnte demnach der Versuch sein, Ängste und ein geringes Selbstwertgefühl zu kompensieren.
Die Betroffenen
Essstörungen betreffen nicht nur die einzelne Person, sondern ihre gesamte Umgebung und stellen vor allem für die Angehörigen eine starke Belastung dar.
Obwohl heutzutage einiges über Essstörungen bekannt ist, verlaufen viele Therapien noch unbefriedigend. Es gibt hohe Rückfallquoten, Symptomverschiebungen (etwa haben Patientinnen die Bulimie im Griff, berichten dafür aber von erhöhtem Alkohol- und Zigarettenkonsum; Magersüchtige entwickeln eine Bulimie), und manche Patienten äußern nach dem erreichten Therapieziel ein anhaltendes Gefühl der Leere, was darauf schließen lässt, dass „nur“ eine Verhaltensänderung und keine eigentliche Problemlösung erreicht wurde.
Die Suche nach einer Erklärung
System-Theoretiker suchen die Ursachen einer Essstörung nicht nur in der Person, sondern in ihrem gesamten Herkunftssystem. Die Krankheit ist nicht das eigentliche Übel, sondern nur das Symptom. Der Patient ist demnach der Symptomträger eines kranken Systems. Aliabadi und Lehnig (Aliabadi, Lehnig 1986, S.74) formulieren dies wie folgt: „Ist das schwächste Familienmitglied zum Fall geworden, dreht sich alles um den Kranken, keiner braucht sich mehr mit den eigenen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen.“ Die gesunden Familienmitglieder halten den Erkrankten in dieser Funktion in der Familie fest, durch diesen Mechanismus kann ein Teil der Familie einem Krankheitsausbruch entgehen.
Die Essstörung macht das aus den Fugen geratenes Familiensystem deutlich
Die Essstörung als Symptom ist also nicht nur die Krankheit einer Einzelperson, sondern Ausdruck von verschiedensten disfunktionalen familiären Strukturen. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass auch die „gesunden“ Familienmitglieder unter der ausgebildeten Krankheit eines ihrer Mitglieder leiden, bewusst, oder unbewusst. Es zeigte sich häufig, dass Essstörungen meist aus Bindungsstörungen während der Kindheit, zwischen dem Betroffenen und seinen Eltern resultieren. Sie stellten den tapferen Versuch dar, unerträgliche Situationen doch zu ertragen, gewaltige Spannungen abzubauen, sich vor Wahnsinn, oder dem eigenem Selbstmord zu schützen.
Demnach stellt sich auch die Frage nach den Behandlungszielen neu: Reicht es aus, wenn die Essgestörte es schafft, ihr Essverhalten zu normalisieren und ihr Gewicht zu stabilisieren, oder müssen auch die familiären Strukturen zur Funktionalität hin geändert werden?
Zusammengefasst:
Um Essstörungen adäquat begegnen zu können, ist es notwendig sich mit der Erforschung ihrer möglichen Ursachen auseinanderzusetzen. Die meisten Fachleute bevorzugen mittlerweile einen multifaktoriellen Erklärungsansatz, in dem meist der Familie der Betroffenen eine herausragende Rolle zugesprochen wird.
Die systemische mehrgenerationale Psychotraumatologie erschließt neue Möglichkeiten, sich sowohl mit der Ursache als auch mit der Funktion eines Symptoms auseinanderzusetzen. Sie setzt es in Bezug zu dem Bindungssystem des Betroffenen, berücksichtigt seine komplexen Interaktionen, sowie die Auswirkungen möglicherweise erlebter Traumatisierungen. Sie betrachtet das Symptom nicht isoliert, als etwas, das allein es auszumerzen gilt, sondern sieht es als Antwort auf pathogene Bindungsstrukturen.