Noch am Abend des 11. März 2009, wenige Stunden nach dem Amoklauf, trat eine Reihe von zum Teil selbst ernannten Experten auf den Plan und spekulierte darüber, wieso Tim Kretschmer diese Tat begangen hat. Ausgemacht wurden die „üblichen Verdächtigen“ wie Gewalt verherrlichende Computer-Spiele, eine bestimmte Musikrichtung und pornographisches Material auf dem Rechner des Täters, wobei sich nach und nach heraus stellte, dass einige Dinge nur in Teilen oder auch überhaupt nicht zutrafen.
Weitere Folgen des Amoklaufs von Winnenden
Am heftigsten und unmittelbarsten von den Folgen betroffen sind selbstverständlich die Angehörigen der Opfer, die Familie des Täters und auch die gesamte Schülerschaft der Albertville-Realschule.
In der Konsequenz ist jedoch mittlerweile zu beobachten, dass männliche Jugendliche und Heranwachsende teilweise kriminalisiert werden, das heißt, jeder männliche Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren könnte prinzipiell der nächste Amokläufer irgendwo in Deutschland sein, insbesondere, wenn noch einige der vermeintlichen Risiko-Faktoren auf einen jungen Mann zutreffen wie etwa der Besitz von Egoshooter-Spielen, ein kleiner Freundeskreis oder ein zurückhaltendes, eher einzelgängerisches Wesen. Dass Amokläufe – egal, ob Winnenden, Erfurt, Emsdetten oder Columbine – bislang ausschließlich von männlichen Jugendlichen begangen wurden, ist für manche Menschen ein Indiz, dass männliche Jugendliche zugleich gefährdet (im Sinne von besonders anfällig für schlechtes Vorbildverhalten durch Familie, Clique und Medien) und gefährlich sind. Nicht die Tatsache, dass sie schon einmal tatsächlich auffällig geworden sind, lässt sie als potentiell gefährlich erscheinen, sondern schon alleine die Möglichkeit, dass sie aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts und eventuell weiterer Faktoren zum Mörder oder Amokläufer werden könnten.
Ein gutes Beispiel für die Überreaktion des Umfeldes auf den Besitz von Egoshooter-Spielen, selbst verfasste Rap-Texte und pornographische Darstellungen auf dem heimischen Rechner ist der im Jahr 2008 in der ARD ausgestrahlte Spielfilm „Ihr könnt euch niemals sicher sein“, in dem ein 17-jähriger aufgrund der vorgenannten Tatsachen zum potentiellen Amokläufer und Mörder abgestempelt wurde, obwohl er es niemals vorgehabt hat.
Männliche Jugendliche werden oft mit Problemen allein gelassen
In einem Leserbrief in der NRZ vom 18. März 2009 beklagte ein Vater, dass für die Mädchen alle möglichen Förder- und Hilfsangebote bestünden, wie etwa Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurse. Er empfindet dieses Angebot als durchaus positiv, stellt aber fest, dass den Jungen nicht die gleichen Möglichkeiten eingeräumt werden, wenn es darum geht, auf eventuelle Ereignisse und Situationen vorbereitet zu sein, auf die ein Jugendlicher unter Umständen noch gar nicht angemessen reagieren kann. Als er dies offen auf einem Elternabend ansprach, wurde er entweder spöttisch belächelt oder erntete offene Ablehnung mit der Begründung, dass Jungs als das „starke Geschlecht“ das in der Regel alleine können müssten. Hier liegt die eigentliche Schwierigkeit: Bei männlichen Jugendlichen wird vorausgesetzt, dass sie mit jeder noch so überfordernden, belastenden Situation umgehen können müssen und letzten Endes alles alleine mit sich aus machen, während die Mädchen viel mehr Möglichkeiten bekommen, Probleme offen anzusprechen und sich selbst behaupten zu lernen.
Einerseits werden männliche Jugendliche somit vielfach mit ihren Sorgen und Nöten allein gelassen, andererseits aber auch als potentielle Risikogruppe für weitere Amokläufe und andere heftige Gewalttaten identifiziert. Dies ist ein Paradoxon an sich. Eine vermeintliche Risikogruppe kann nur durch direkte Auseinandersetzung mit den Betroffenen minimiert werden, nicht aber durch eine pauschale Kriminalisierung und in vielen Fällen vollkommen überzogene Befürchtungen, dass ein Jugendlicher eine Gewalttat begehen könnte.
Mädchen und Gewaltkriminalität
Auch wenn es bisher noch kein junges Mädchen gab, das für einen Amoklauf an einer Schule verantwortlich war, so heißt dies nicht, dass Mädchen prinzipiell keine kriminelle Energie in Bezug auf Gewalttaten haben. Ihnen werden zwar pauschal eher Delikte wie Beleidigung oder Beschaffungskriminalität im Zusammenhang mit Suchtmittelabhängigkeit (also illegale Prostitution und Ladendiebstähle) zugeschrieben, dennoch hat die Zahl der weiblichen Jugendlichen, die wegen Körperverletzung oder versuchtem Totschlags verurteilt wurden, in den vergangenen fünf Jahren um 150 % zugenommen. Merkwürdigerweise veranlasst dies jedoch kaum jemanden, junge Mädchen nun pauschal zu kriminalisieren oder die Ursachen für die gestiegene Gewaltkriminalität bei weiblichen Heranwachsenden zu betrachten.