Irgendwann in dieser Zeit zwischen den ersten Gehversuchen in der Muttersprache und dem Aufkeimen pubertärer Gefühle kommt ein junger Mensch aus kulturell gebildetem Umfeld kaum darum herum, ein paar Zeilen zu lesen, die sich mit dem Gefühl beschäftigen, das Verliebte füreinander hegen. Sei es auch nur ein banaler Kurz-Reim, sei es eine berühmte Sonette: Liebesgedichte haben einen festen Platz in unserer Kultur. Passiv wie aktiv setzen wir uns damit auseinander – manchmal durch pädagogische Vorgaben an den Schulen erzwungen, manchmal aus dem eigenen Antrieb heraus, jemandem ein paar liebende Worte in Gedichtform zu senden.
Sie können dabei ebenso ernst wie heiter sein, verinnerlicht oder plakativ schreiend, dezent oder völlig überzogen, klar strukturiert oder dadaistisch verzerrt. Während Liebessprüche für sich -schon von ihrer Natur her- weniger lyrisch-poetisch als einprägsam daherkommen, können Gedichte eine epische Breite erreichen – in Form und Umfang.
Das, was hinter beiden Kunstformen steht, ist jedoch die unbedingte und absolute Wichtigkeit ihrer Aussagen. Die innere Verbundenheit, die wir als ‚Liebe‘ bezeichnen, gehört seit Anbeginn der Geschichte zu den Triebfedern literarischer Inhalte und ganzer Werke. Die großen Liebenden wie Samson und Dalila, Tristan und Isolde, Romeo und Julia oder auch -in neuerer Zeit- Scarlett O’Hara und Rhett Butler – sie alle stehen nur für das äußerste Extrem dieser Gefühlswelten … und sind wohl auch deshalb über die Grenzen westlicher Individualkultur weltweit bekannt geworden.
Aber auch jede kleine Liebelei auf den Schulhöfen, jede aufkeimende Romantik im Herzen eines frisch Verliebten hat empfindsame Menschen schon immer dazu gebracht, Gedanken und Gefühle in Gedichtform aufzuschreiben.
Lyrik oder Sprüche – ganz offiziell und voller Stolz präsentiert, in einem Brief oder auf einer Postkarte mitgeteilt – oder auch im Geheimen, schüchtern und nur für die unerreichbare, ferne Liebe gedacht, von der niemand je erfahren soll … alleine die Zeilen auf einem Blatt Papier, die Buchstaben einer versteckten Datei zeugen von den archetypischen Gefühlswelten, deren Macht sich niemand entziehen kann – weder Schwärmer noch Krieger, Weichei noch Macho. Oft genug werden diese Zeugnisse sogar im Nachlass von Menschentypen entdeckt, denen man gefühlsgetränkte Äußerungen nie zugetraut hätte.
Das Schöne dabei ist: Jeder lyrische Text und jeder Spruch ist für sich gesehen -eine gewisse sprachliche und gedankliche Qualität natürlich vorausgesetzt- über Zeiten, Moden und Trends hinweg auch für den akzeptabel und gar verwendbar, der sich selbst kein Gedicht und keinen Sinnspruch zu erstellen zutraut.
Nein -die Form und die Mittel haben auch in der heutigen Zeit nicht ausgedient –lediglich die Medien haben sich geändert.