Aus Sicht des Konstruktivismus stellen wir Wirklichkeit durch unser subjektives Wahrnehmen, Denken und Handeln selbst her. Gilt das auch für die Liebe?
Die Liebe ist ein überwältigendes, subjektives Gefühl und schwer zu beschreiben. Gibt es die Liebe oder erschaffen wir sie? Der Konstruktivismus geht davon aus, dass wir die Welt, in der wir leben, konstruieren. Durch unser subjektives Wahrnehmen, Denken und Handeln planen wir eine Wirklichkeit, die wiederum unser Wahrnehmen, Denken und Handeln beeinflusst. Unser subjektives Weltbild wird dabei immer wieder bestätigt. Unsere Interpretationen hängen von Erfahrungen und Wertesystem ab. Wir erfinden die Wirklichkeit, ohne uns des Aktes der Erfindung bewusst zu sein. Erfinden wir auch die Liebe? Sprache schafft Wirklichkeit. Nur das, was verbalisierbar ist, ist für uns existent. Eine große Rolle spielen Mythen wie erfahrungshistorische Hintergründe und Sprachskripte, das heißt typische Interaktionssequenzen, die nur vor diesem Hintergrund verständlich sind.
Die Beziehung als zwischenmenschliches Konstrukt
In einer Liebesbeziehung läuft es genauso ab. Der „Schwur ewiger Liebe“ kann nur in einer Gesellschaft verständlich sein, die den Mythos der „romantischen Liebe“ kennt und verinnerlicht hat. Beziehungen entstehen, bestehen und vergehen durch aufeinander abgestimmtes Kommunizieren und Handeln. Die Struktur einer Beziehung ist Außenstehenden verhältnismäßig leicht, den Partnern selbst aber nicht zugänglich. Häufig wird dem Partner die Schuld für das Misslingen der Beziehungssituation zugeschrieben. Ursache sind jedoch meist Unterschiede in den individuellen Konstruktionen über die (Beziehungs-) Wirklichkeit. Wie die Partner ihre Beziehung wahrnehmen hängt von der Art ihrer Kommunikation ab. Beziehungen bewegen sich auf einer Geraden zwischen zwei Extremen, zwischen keinerlei Interaktion und vollkommener Wechselseitigkeit und Identität der Partner, die mehr oder weniger gleich fühlen, handeln und denken. In jedem Stadium der Beziehung wirken Faktoren ein, die ein Scheitern oder eine Weiterentwicklung auslösen. Haben Partner ein Hindernis genommen, ihre Beziehung eine neue Qualität erlangt, wartet schon die nächste größere Schwierigkeit.
Die Bedeutung von Mythen in der Beziehung
Jede Person ist der Ansicht, sie handle in der Beziehung rein nach eigenem Gefühl und vertrete die ureigensten Ansprüche. Dabei wird ihr meist nicht bewusst, dass ihr Verhalten Wirklichkeitsräume schließt. Durch das Verbalisieren subjektiver Theorien werden Strukturen gesetzt, die sie in ein Handlungsmuster zwingen. Eine Beziehung findet in einer bestimmten Gesellschaft statt, in der allgemein anerkannte Weisheiten über Beziehungen und Liebe existieren. Diese prägen das individuelle Verhalten und bestimmen den Möglichkeitsraum von Beziehungen:
- Es ist besser, eine Beziehung zu haben als keine.
- Geteilte Freude ist doppelte Freude, geteiltes Leid ist halbes Leid.
- Wenn die negativen Seiten einer Beziehung die positiven überwiegen, trennt man sich.
Für jede Beziehungsphase gibt es Mythen, die Begründungen für den jeweiligen Aggregatzustand der Beziehung (Aufrechterhaltung, Krise, Auflösung) liefern. Gute Beziehungen sollen alle Vorstellungen und Bedürfnisse beider Partner in höchster Intensität erfüllen. Die Gleichzeitigkeit aller Forderungen und Anforderungen an eine Beziehung macht diese fast von vornherein unerfüllbar.
Mythen und Sprachskripte über den Beziehungsbeginn
Geschichten zur „richtigen“ Wahl des Partners und die „Kennenlerngeschichte“ werden zu Beginn einer Liebesbeziehung konstruiert und wechselseitig aufgesagt, um den Sinn der neuen Beziehung zu manifestieren. Skripte, wie „es traf mich wie der Blitz“, „weil wir die gleichen Vorstellungen haben“, „weil ich bei A ganz ich selbst sein kann“ sind uns allen bekannt.
Mythen über eine gute Beziehung und ihr Aufrechterhalten
Eine gute Beziehung ist in unserem System mit folgenden Mythen definiert:
- sich aufeinander verlassen können
- gemeinsames Aushalten von Schicksalsschlägen
- ab und zu mal ein Gewitter ist besser als ständige Schwüle
Zum Thema „Aufrechterhaltung von Beziehungen“ scheinen kaum Mythen zu existieren, da es kaum Vorbilder für die konfliktfreie Aufrechterhaltung einer Beziehung zu geben scheint. Dafür gibt es Aufrechterhaltungsskripte, wie die Beteuerung des gemeinsamen Glücks oder die Betonung der positiven Eigenschaften des Anderen. Typisch sind jedoch geheime, unausgesprochene Verabredungen, durch die sich die Partner wechselseitig als Person bestätigen, als die sie sich selbst sehen.
Mythen zu Beziehungskrise und -ende
Eine besondere Rolle spielen Eifersuchtsgeschichten, die die aktuelle Krise nicht nur beschreiben, sondern Auftreten und Ablauf geradezu vorschreiben. Kommunal definierte Sprachskripte liefern unerschöpfliche Vorstellungen in den Köpfen der Liebenden und stellen wiederum eine Wirklichkeit her, unter der die Liebenden dann leiden können. Versuchen die Partner, eine als kommunal definierte Krisensituation mit eigenen Vorstellungen zu meistern oder gar zu missachten, können sie sich des Misstrauens und der Anfeindung ihrer Umgebung gewiss sein.
Streit- und Beendigungsskripte
Streitskripte sagen etwas darüber aus, was in unserer Gesellschaft als Beziehungsstreit angesehen wird. Mit ihrer Hilfe kann man sich für etwas rechtfertigen, etwas erreichen, auf Argumentationsmängel des Partners hinweisen, Vorwürfe gegen ihn loswerden oder das Beziehungsende einleiten:
- Bei dir weiß man nie, woran man ist!
- An mir liegt es nicht, dass alles so ist, wie es ist!
- Du liebst mich nicht mehr!
- So hat das keinen Zweck mehr mit uns!
Beendigungsskripte sollen das Ende einer Beziehung verbal vor-, zu- oder nachbereiten:
- Wir waren nie wirklich offen zueinander!
- Du konntest nie loslassen!
- Wir haben uns nur noch gestritten!
- Ich will meine Freiheit wieder haben!
- Die Gefühle sind einfach weg!
Wir konstruieren unsere Beziehungswirklichkeit zusammen mit unserem Partner und sind für ihren Charakter und Verlauf verantwortlich. Wenn wir über diesen Vorgang reflektieren, die eigenen Konstrukte prüfen und unserem Partner seine eigenen zugestehen, machen wir den Schritt hin zu einer „guten“ Beziehung. Eine Beziehung kann dadurch bereichert werden, dass sich beide Beziehungspartner positive Vorstellungen über den jeweils anderen machen, diese durch häufig verwendete Sprachskripte, Gesten und Verhaltensweisen dokumentieren, damit bestätigen und immer wieder neu herstellen. „Streit“ bedeutet dann nur „Streit“ und nicht das Zusammenbrechen der eigenen, ausschließlich über die Beziehung definierten Persönlichkeit. So können wir Möglichkeitsräume öffnen, anstatt Wirklichkeitsräume zu schließen. Dies bringt eine Erweiterung der individuellen Freiheitsräume in der Beziehung mit sich.
Auch wenn jede Liebesbeziehung ein Konstrukt ist, haben wir das Instrumentarium in der Hand, diese Liebe zu erhalten und zu genießen. Die Liebe auf den ersten Blick kann allenfalls als biochemischer Prozess erklärt werden, bleibt aber ein beeindruckendes, ungeklärtes Phänomen. Das geheimnisvolle wie romantische Phänomen „Liebe“ sollte uns trotz einer konstruktivistischen ent-täuschenden Sichtweise erhalten bleiben.