Ohrlöcher mit heißen Nadeln stechen – das gab es schon zu Großmutters Zeiten. Doch was heute in Kinderzimmern vor sich geht, nimmt ganz andere Ausmaße an.
Jeder kennt sie, die so genannten „Knast-Tattoos“: Bildchen, die selbst oder von Freunden gestochen wurden und optisch meist einer mittleren Katastrophe gleichkommen – diese hochgefährliche „Eigeninitiative“ hat jetzt auch die Piercing-Kultur erreicht. „Da ist schon ein Trend erkennbar“, sagt Martin Kraus, der in der Neusser Innenstadt ein Tattoo- und Piercingstudio betreibt. „Immer mehr Minderjährige kommen zu mir in den Laden, nachdem sich selbst gestochene Löcher entzündet haben“. Besonders fies: Bei vielen dieser Wunden handelt es sich um missratene Piercings an Augenbraue, Lippe oder Zunge.
Neues Piercing auf dem Klo gestochen: Kreislaufkollaps
Auch Katharina Schmitz kann diesen bedenklichen Trend zur Selbstverstümmelung bestätigen. Die 19-Jährige absolviert zurzeit ein Sozialpraktikum in einer öffentlichen Einrichtung und betreut dort Jugendliche. „Es kommt in letzter Zeit tatsächlich immer häufiger vor, dass sich vor allem Mädchen auf der Toilette mal eben ein neues Piercing stechen.“ Erst vor wenigen Wochen ist ihr eine Jugendliche mit kreidebleichem Gesicht im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme gefallen, nachdem sie sich selbst die Lippe durchbohrt hatte.
Ein entscheidender Grund für die vielen Piercing-Unfälle dürfte die Tatsache sein, dass es den Jugendlichen viel zu leicht gemacht wird, sich auf eine pseudo-professionelle Art und Weise selbst zu piercen: Im Internet bekommt man für ein paar Euro steriles Besteck, und die so genannten Ohrlochpistolen gibt es ebenfalls an jeder Ecke. Vor allem gegen diese, ursprünglich zur Kennung von Schweinen entwickelten Geräte sprechen sich viele seriöse Piercer nachhaltig aus. Dazu kommen all die Fernsehsendungen, die sämtliche Arten von Körperschmuck bejubeln und, besonders gefährlich, Amateurvideos im Internet, in denen richtige Anleitungen zum Selber-Piercen gegeben werden.
Gestochen wir mit allem, was spitz genug ist – die Hygiene bleibt dabei auf der Strecke
Aber es müssen nicht immer „echte“ Piercing-Utensilien sein, gestochen wird mit allem, was spitz genug ist. „Es kann doch nicht sein, dass ein 14-jähriges Mädchen in die Apotheke gehen kann, um sich mit Kanülen einzudecken“, kritisiert Martin Kraus die lockere Gesetzgebung – übrigens auch in Hinblick auf vermeintliche „Kollegen“: „Völlig daneben ist, dass viele Juweliere, die entsprechenden Schmuck anbieten, ohne jede Kenntnis von der Materie auch das Stechen in ihr Angebot aufnehmen. Was dabei rumkommt, sehe ich regelmäßig in meinem Laden!“ Als wäre das ungeschulte Hantieren mit sterilem Besteck nicht schon schlimm genug, schrecken die Jugendlichen oft nicht einmal vor offensichtlich verunreinigten Gegenständen zurück: Da wird mitten im Unterricht schon mal ein Stecker aus dem Ohr genommen, damit ihn sich der Klassenkamerad durch die Lippe jagen kann. „Dass dabei Dreck und Bakterien ohne Ende übertragen werden, sollte sich ja jeder denken können“, zeigt sich Kraus von diesen Methoden schockiert.
Wenn gut gemeinte Ratschläge der Eltern im Krankenhaus enden
Doch es gibt noch eine parallele Entwicklung, die mindestens ebenso bedenklich ist: Immer häufiger stechen auch Ärzte, sozusagen zum Nebenverdienst, ihre Patienten. Martin Kraus hat in seinem Studio die Erfahrung gemacht: „Oft kommen Jugendliche zu mir, um sich den Schmuck zu besorgen, gestochen wird aber beim Arzt.“ Sicher ohne böse Absicht schicken viele Eltern ihre Kinder fürs Piercen zum Arzt, in der Regel, weil sie diesem mehr vertrauen als dem Piercer. Schließlich hat diese Art von Körperschmuck trotz aller gesellschaftlichen Akzeptanz noch immer etwas Verruchtes. „Man darf aber nie vergessen“, sagt Martin Kraus, „dass in einem Studio professionelle Piercer arbeiten, die diesen Beruf lange gelernt haben – Ärzte hingegen haben in diesem Bereich keinerlei Ausbildung. Wenn ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt ein Ohrloch sticht, habe ich noch ein gewisses Verständnis, da er weiß, wo im Ohr die Nervenstränge verlaufen, aber an anderen Körperstellen hat der nichts verloren“. Und so kommt es nicht selten vor, dass Kraus Jugendliche, die ihr Piercing beim Arzt haben stechen lassen, ins Krankenhaus schicken muss, weil die Entzündungen bereits zu weit vorangeschritten sind. „Doktor, bleib bei deinen Leisten“, möchte man den Halbgöttern in Weiß zurufen. Martin Kraus bringt es auf den Punkt: „Ein Arzt ist nun mal ein Arzt und ein Piercer ein Piercer. Beides sind Fachmänner – aber eben nur in ihrem jeweiligen Bereich!“