1964, Zentrum von New York: Kitty Genovese wird in ihrem Haus angegriffen und über mehrere Stunden qualvoll getötet. Zeugen, die das Geschehen sahen oder hörten: 38! Personen, die helfend eingriffen: 0!
Ostersamstagabend 2011, Berliner U-Bahn: Ein Mann schreitet ein, als zwei junge Männer einen Dritten brutal attackierten. Doch, wie er selbst aussagt, er war nicht der Einzige, der den Vorfall sah. Nur geholfen hat sonst niemand. Warum aber kommt niemand zur Hilfe, obwohl ein anderer Mensch offensichtlich Unterstützung benötigt? Und warum entschließen sich Manche anders und helfen tatsächlich?
Warum ist Hilfeverhalten so selten?
An den dargestellten Fällen ist es klar erkennbar: Dass keine Hilfe kam, lag nicht daran, dass der Vorfall unbemerkt geblieben wäre. In vielen Fällen mangelt es keinesfalls an Beobachtern, die in der Lage wären zu helfen. Doch warum schrecken so viele Beobachter in einer offensichtlichen Notsituation davor zurück, helfend einzugreifen?
In Fällen wie der U-Bahn-Attacke spielen vor allem drei Faktoren eine Rolle:
1. Pluralistische Ignoranz: Das Verhalten Anderer dient oft als Orientierungshilfe für das eigene Verhalten. Dies gilt gerade für Situationen, in denen man sich hinsichtlich des eigenen Verhaltens unsicher ist. Reagieren Andere in einer Notfallsituation nicht, führt das somit zu Gedankengängen wie: „Wenn andere nichts tun, muss ich auch nichts tun!“
2. Verantwortungsdiffusion: Zu dem Punkt der „Pluralistischen Ignoranz“ treten dann Gedankengänge auf wie: „Warum soll ich helfen? Die Anderen könnten doch auch etwas tun.“
3. Angst vor Bewertung: Notfallsituationen sind -zum Glück – eher die Ausnahmen, d.h. in der Regel hat ein potenzieller Helfer wenig Erfahrung, wie er sich verhalten sollte. Auch wenn der Einzelne gern helfen würde, bleiben Unsicherheiten wie: „Bin ich überhaupt in der Lage zu helfen? Blamiere ich mich vielleicht vor den Anderen, wenn ich versuche zu helfen?“
All diese Überlegungen führen wie im Fall von Kitty Genovese zusammen zu dem Phänomen des sogenannten „Bystander-Effekts“: Beobachter greifen nicht ein und sehen dem Geschehen lediglich zu.
Wem helfen wir – und wem nicht?
Ob es zu einem Hilfeverhalten kommt, hängt nicht nur von Überlegungen des potenziellen Helfers, sondern auch von Eigenschaften des Hilfsbedürftigen, der emotionalen Situation des Helfers und Ähnlichem ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein potenzieller Helfer tatsächlich in die Situation eingreift, liegt deutlich höher bei:
1. Attraktiven Hilfsbedürftigen: Eine Rolle spielt dabei sicher auch, dass attraktiven Personen implizit gute Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben werden und daher auch das Einfühlen in attraktive Hilfsbedürftige besser gelingt. Bei Frauen gibt es ein Merkmal äußerer Attraktivität, das erwiesenermaßen in einem starken Zusammenhang mit Hilfeverhalten steht: das sogenannte „Kindchen-Schema“.
2. Hilfsbedürftigen Personen, die dem potenziellen Helfer ähnlich sind: Ähnlichkeit in wichtigen Punkten wie zum Beispiel dem kulturellen oder religiösen Hintergrund erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Hilfeverhalten auftritt.
3. Einer positiven Stimmung des potentiellen Helfers: Generell ist eine positive Stimmung des potenziellen Helfers zwar förderlich, aber auch eine negative Stimmung kann zum Helfen animieren, wenn so die eigene Stimmung oder der Selbstwert verbessert werden kann.
4. Einem potenziellen Helfer, der nicht unter Zeitdruck steht: Ein Experiment von Darley & Batson, bei dem unter Anderem der Zeitdruck variiert wurde, unter dem der potenzielle Helfer beim Treffen auf eine hilfsbedürftige Person stand, zeigte, dass bei hohem Zeitdruck nur noch circa 20% der Versuchspersonen halfen (bei geringem Zeitdruck hingegen circa 80%).
Was kann man tun, um Andere zum Helfen zu animieren?
Dem Phänomen des Bystander-Effekts kann man, wenn man in eine Notfallsituation ist, entgegenwirken. Entsprechend einem Modell von Darley und Latané muss ein potenzieller Helfen verschiedene Stufen durchlaufen, damit es zu einem Hilfeverhalten kommt. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass jemand tatsächlich hilft, sollte man (nach Latané & Darley)
1. dafür sorgen, dass Andere die Situation wahrnehmen und als Notfall einschätzen (erste und zweite Stufe des Modells von Latané & Darley)
–> Um „HILFE“ rufen, im Falle körperlicher Angriffe Gegenwehr leisten!
2. an die Verantwortung des Einzelnen appellieren (Verantwortungsdiffusion entgegenwirken) –> Direkte Ansprache macht es dem Einzelnen schwieriger sich auf das Nichtstun Anderer als Entscheidungshilfe für das eigene Verhalten zu berufen.
In den letzten beiden Schritten geht es dann um die Entscheidung zur Hilfe und der Art des Hilfeverhaltens, die der potenzielle Helfer treffen muss. Natürlich kann nicht jeder Beobachter aktiv in das Geschehen eingreifen. Allerdings ist auch ein Anruf bei der Polizei oder Ähnliches schon als Hilfeleistung zu werten, das für eine hilfsbedürftige Person oft von essentieller Bedeutung ist.