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Handysucht führt Kinder in die soziale Isolation

Mobiltelefon als Droge: Teenager verlieren den Bezug zur Realität. In der Kinderwelt regiert immer häufiger das Handy. Denn viele Kids holen sich ihre soziale Anerkennung per Telefon, Mailbox oder SMS. Davon werden sie oft abhängig.

Ein eigenes Handy steht ganz oben auf der Wunschliste der Sechs- bis Dreizehnjährigen in Deutschland. Das hat die KidsVerbraucherAnalyse 2017 festgestellt. Danach besitzen bereits 2,2 Millionen der 5,7 Millionen Kinder dieser Altersgruppe ein Mobiltelefon. Die Quote steigt mit zunehmendem Alter: Schon 64 Prozent der 10- bis 13-Jährigen sind Handynutzer. Nach Angaben des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (MPFS) wird dieser Anteil weiter wachsen. Nicht bekannt ist allerdings, wieviele Kinder heute handysüchtig sind.

Das Handy macht viele Kinder selbstbewusster

In einer von Erwachsenen und ihrer Technik geprägten Gesellschaft versuchen Kinder, ihren eigenen Weg zu finden. Dabei orientieren sie sich in erster Linie an ihrem persönlichen Umfeld. So entwickeln sie ihre eigenen Rollen in Familie, Schule oder Freundeskreis, wo sie als eigenständige Persönlichkeiten natürlich ernst genommen werden möchten. Viele Kids glauben, dieses Ziel mit einem eigenen Mobiltelefon leichter zu erreichen.

Während Eltern das Kinderhandy lediglich als praktische Alltagshilfe für den Notfall oder zur Überwachung nutzen, betreten Kids damit die ersehnte Erwachsenenwelt. Denn nun können sie mehr oder weniger selbst bestimmen, mit wem sie wann und wielange kommunizieren.

In diesem Bewusstsein entwickeln viele Kinder allmählich eine enge Verbundenheit zum Mobiltelefon, das sie wie ihr Markenspielzeug nur ungern aus der Hand geben. Noch ausgeprägter zeigt sich dies im schulischen Alltag. Hier kann der Besitz eines Handys sogar darüber entscheiden, ob ein Kind in eine Gruppe aufgenommen oder vielmehr ausgegrenzt wird. Auf diese Weise lernen die kleinen Erwachsenen frühzeitig, dass manchmal ihre soziale Wertschätzung davon abhängt.

Handysüchtige Kids suchen soziale Bestätigung per SMS

Mobiltelefone für Kinder sind leicht zu bedienen. Schon Sechs- oder Siebenjährige lernen damit in kurzer Zeit, selbstständig zu telefonieren, die Mailbox abzuhören oder eine SMS (Abk. für short message service) zu senden. Natürlich erwartet das Kind nach jeder abgeschickten Kurznachricht eine Rückmeldung und überprüft deshalb regelmäßig seine Mailbox. Erfolgt diese Abfrage schließlich zwanghaft oder werden zum Beispiel täglich mehr als 100 SMS versandt, liegen bereits erste Anzeichen für ein Suchtverhalten vor.

Allmählich kann dieses Verhalten dazu führen, dass Teenager ihre soziale Bestätigung fast ausschließlich aus dem Pool erhaltener Anrufe oder SMS speisen. Damit erfüllt ihnen das Handy den natürlichen Wunsch, von anderen angenommen und anerkannt zu werden. Um keine Nachricht zu verpassen, haben sie ihr Gerät immer bei sich. Es wird nun unentbehrlich. Andernfalls treten mehr oder weniger starke Entzugserscheinungen auf, die sich zunächst in Unruhe und Niedergeschlagenheit äussern und später sogar zu Angstzuständen und Depressionen führen können. Psychotherapeuten bezeichnen diese Entziehungserscheinungen als Mobile and Internet Dependency Syndrome (MAIDS).

Abhängige Kinder isolieren sich vom wirklichen Leben

Handysüchtige Kids leben dann oft mehr in ihrer eigenen als in der wirklichen Welt. Den Grund dafür sieht der Göttinger Neurobiologe und Hirnforscher Prof. Gerald Hüther in der einseitigen Verwendung immer gleicher Gehirnbahnen. Denn dort hinterlässt der zwanghafte Umgang mit dem Mobiltelefon bleibende Spuren. Wie eine Studie der Universität Florida dazu feststellt, ziehen sich Kinder bei Entzug noch mehr zurück. Insgesamt nimmt so ihr aktiver Lebensbezug ab. Das Handy wird zum Lebensmittelpunkt.

Naturgemäß sind stille zurückgezogene Kinder für diese Abhängigkeit besonders anfällig.

Brauchen sie doch mehr Verständnis und Zuwendung als lebhafte Kids, um ihren Weg im Leben sicher zu finden. Mit dem jederzeit möglichen Griff zum Handy jedoch gelingt es ihnen, auf einfache Weise ihr dünnes Selbstbewusstsein zu pflegen. Darin erkennt die Chefärztin am Zentrum für Psychiatrie Ravensburg-Weissenau (ZfP), Renate Schepker, den fortwährenden Versuch, ein soziales Defizit auszugleichen. So erklärt sich auch das typische Suchtverhalten, sich nur mit Mobiltelefon gut und sicher zu fühlen.

Aus Angst vor persönlichen Kontakten schicken Kinder lieber eine SMS

Obwohl das Phänomen Handysucht inzwischen in ganz unterschiedlichen Kulturen auftritt,

sind die Ursachen dafür offenbar gleich. Immerhin sind Kinder als zweifellos schwächste Mitglieder der Gesellschaft vom Verhalten ihrer Umwelt überall am stärksten betroffen. Psychologen sehen deshalb den Nährboden dieser Sucht in erster Linie im sozialen Bereich: nicht nur der schnelllebige und oftmals unpersönliche Charakter unserer Zeit, sondern auch das damit verbundene oberflächliche Miteinander fördern die Abhängigkeit.

Nach Ansicht der Psychotherapeutin Rita Munder, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene behandelt, passen sich Kids diesem Zeitgeist an. Häufig haben sie Angst, ihren Mitmenschen im Gespräch persönlich zu begegnen. Der kurze Kontakt aus der Ferne per Mobiltelefon schafft hier Erleichterung. Doch diese praktische Ersatzbefriedigung kann unvermittelt zum Zwang werden.

Weitergehende Untersuchungen zeigen, dass Kinder ebenfalls gerne zum Handy greifen, wenn sie sich einsam fühlen, langweilen oder warten müssen. Einerseits gelingt es ihnen damit, persönliche Begegnungen zu vermeiden, andererseits verhindern sie aber gleichzeitig eine Konfrontation mit sich selbst. Dieses Verhalten wird besonders offenkundig, wenn zur Mittagszeit ganze Scharen von Schülerinnen und Schülern an Bushaltestellen oder Bahnhöfen warten und viele von Ihnen wie auf Befehl ihr Mobiltelefon bedienen.