Frédérick Leboyer und die moderne Geburtshilfe
Frédérick Leboyer, jener Gynäkologe, der in den 1970er Jahren eine weltweite Bewegung für eine „Geburt ohne Gewalt“ auslöste , feierte 2018 seinen 100. Geburtstag.
Wir schreiben das Jahr 1978. Im Gros der österreichischen Spitäler herrscht noch die Zeit der programmierten Entbindungen: Der Arzt bestimmt den Zeitpunkt der Geburt, wann die Wehen eingeleitet werden und die Fruchtblase geöffnet wird. Die Herztöne des Kindes werden lückenlos überwacht, die werdenden Mamis sind dadurch an das Gebärbett gebunden. Die Periduralanästhesie ist für sie ein wahrer Segen, denn die künstlichen Wehen sind schwer zu verarbeiten. Die letzte Geburtsphase kürzt der Arzt oft durch den Einsatz der Saugglocke oder Zange ab. Es folgt die programmierte Begrüßung des Kindes: Scheinwerfer-Licht wird auf es gerichtet, kaum dass das Köpfchen zu sehen ist; der Nasen-Rachenraum sofort abgesaugt, die Nabelschnur durchtrennt.
„Babys kennen keinen Schmerz“
Mit den ersten Atemzügen stürzt Luft in die Lunge des Neugeborenen. Es schreit aus Leibeskräften. Das ist gut so, argumentiert die Geburtsmedizin, weil „es“ seine Lungen entfalten muss. Sie ist auch überzeugt davon, dass „es“ weder sehen noch hören kann – und vor allem keinen Schmerz empfindet. So lässt sich auch erklären, warum das Baby, an den Füßen ergriffen und mit dem Kopf nach unten zum Untersuchungstisch getragen wird. Nun stehen „Tauglichkeitsprüfungen“ auf dem Programm. Fallen diese aufgrund des Geburtsstresses nicht zufriedenstellend aus, wird das arme Kleine noch einmal abgesaugt. Ist die Haut nicht rosig genug, wird es beatmet. Sind die Werte im grünen Bereich, wird das Baby gewaschen und in einen engen Strampler gezwängt. Dann zeigt man es kurz seiner noch benommenen Mutter und bringt es schließlich für die nächsten 24 Stunden ins Kinderzimmer.
Leboyer: Wegbereiter der Geburt ohne Gewalt
Schwenken wir fünf Jahre zurück, ins Jahr 1973, nach Frankreich. Hier hat Frédérick Leboyer, geboren am 1. November 1918, über lange Jahre als Frauenarzt und Geburtshelfer an einer Pariser Klinik gearbeitet – unter ähnlichen Bedingungen wie oben beschrieben. Jetzt will Leboyer sich nicht länger mit der technokratischen und unmenschlichen Geburtsmedizin seiner Zeit abfinden. Er kündigt – obwohl er Chefarzt der Abteilung ist – sein Arbeitsverhältnis und geht nach Indien. Dort bekommt Leboyer wesentliche Anregungen für eine neue Sichtweise von Geburt und Mutterschaft. 1974 erscheint Leboyers erstes Buch „Geburt ohne Gewalt“, das in 17 Sprachen übersetzt wird und eine weltweite Bewegung für die „Sanfte Geburt“ auslöst.
Leboyer Methode: Natürliche Geburt ist nicht sanft und schmerzfrei
Doch Achtung: Leboyer möchte mit dem Begriff „Geburt ohne Gewalt“ keineswegs aussagen, dass eine natürliche Geburt sanft oder gar schmerzfrei ist. Ihm geht es allein darum, dass alle Beteiligten dem Kind den Übergang vom Mutterleib in unsere Welt so sanft wie möglich gestalten. Dabei spielt die Geburtsatmosphäre eine wichtige Rolle:
- Das Entbindungszimmer sollte Leboyer zufolge warm und gemütlich sein. Auf gleißendes Licht wie im Operationssaal wird verzichtet. Die Gebärende und das Neugeborene werden von störenden Aktivitäten und Geräuschen abgeschirmt.
- Nach der Entbindung wird das Neugeborene der Mutter auf den Bauch gelegt, um die Wärme zu spüren und die Herztöne der Mutter zu hören. So soll sich das Baby von den Strapazen der Geburt erholen.
- Die Nabelschnur wird nicht unmittelbar nach der Geburt durchtrennt, sondern kann langsam auspulsieren. Dadurch soll dem Kind die Umstellung auf die selbständige Atmung leichter fallen.
- Danach wird das Neugeborene warm gebadet, massiert und zum ersten Mal an die Brust der Mutter gelegt.
- Medizinisch wird nur eingegriffen, wenn dies notwendig ist.
Leboyer Methode: Wie erlebt ein Baby die Geburt?
Zurück nach Österreich. Hier sind Leboyer’s Gedanken und Ideen ab Mitte der 80er Jahre in aller Munde. „Wir verdanken Leboyer den Blick auf die Geburt aus der Sicht des Kindes: Was erlebt ein Baby unter und nach der Geburt?“, hebt Dr. Michael Adam, Wegbereiter einer natürlichen und selbstbestimmten Geburt in Österreich, hervor. Er gründet 1986 das Geburtshaus Nussdorf, das in den folgenden Jahren Leitbild für die Geburtshilfe an Wiener Kliniken wird. „Wenn wir die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen, reagiert es, indem es mit großen Augen schaut. Wenn es rundherum laut ist, brüllt es. Wenn ein Neugeborenes nicht lauthals brüllt, heißt das nicht, dass es ihm schlecht geht, im Gegenteil!“ resümiert der erfahrene Geburtsmediziner.
Nachteil der Leboyer Methode
Die Leboyer Methode hat für Adam jedoch auch einen Nachteil, nämlich dass allein das Kind im Mittelpunkt steht. „Ich weiß, dass Leboyer die Kinder nach der Geburt oft in ein Nebenzimmer ,verschleppt’ und dort hingebungsvoll massiert hat“, erzählt er. „Ich habe immer gedacht, dass ihm das nicht zusteht. Wenn er es wichtig findet, dass das Kind massiert wird, kann er die Väter und Mütter anlernen und die machen das dann; oder wenn er es übernimmt, selbstverständlich bei der Mutter!“
In Nussdorf geht man denn von Anfang an einen anderen Weg, man versucht immer beiden – den Müttern und den Kindern – die Geburt als ein schönes Erlebnis zu gestalten. 17 Jahre kann das private Geburtshaus neben den großen Geburtskliniken bestehen, dann muss es aus ökonomischen Gründen geschlossen werden. Adam führt jedoch noch heute seine Privatpraxis an diesem Ort, vernetzt mit den ehemaligen Hebammen, im Sinne des Geburtshaus-Nussdorfkonzeptes.