Übergewicht kann eine mikrobielle Ursache haben: Eine falsch zusammen gesetzte Darmflora produziert aus Ballaststoffen zusätzliche Kalorien.
In unserem Körper beherbergen wir mehr Mikroorganismen als wir Körperzellen besitzen. So erscheint es verwunderlich, dass die Funktion der Darmflora bisher wenig beachtet wurde. Die Mikroflora im Darm eines erwachsenen Menschen besteht aus bis zu 100 Billionen Mikroorganismen und ist trotzdem ein wenig erforschtes komplexes Ökosystem, ähnlich wie in der Tiefsee. Mit neuen molekulargenetischen Analysemethoden (16sRNA-Technik) stehen jetzt Möglichkeiten zur Verfügung, bisher nicht kultivierbare – im sauerstofflosen Milieu lebende (anaerobe) Bakterienarten – nachzuweisen. Die Bacteroidetes (mit der Klasse Bacteroides) und die Firmicutes (Bacilli, Clostridia und weitere Klassen). Im deutschen Sprachgebrauch verwendet man auch die Namen Bacteroideten und Firmicuten (lat. firmus „stark“, cutis „Haut“ = „Dickhäuter“). Diese beiden Bakterien-Arten machen zusammen mehr als 90 % der gesunden Darmflora aus.
Entdeckung der Firmicuten – Von Menschen und Mäusen
Jeffrey Gordon und Mitarbeiter von der Washington Universität in St. Louis (USA) veröffentlichten im Jahre 2004 neue Erkenntnisse über dem Zusammenhang von Dicksein und Darmflora. Sie stellten fest, dass keimfreie Mäuse, wenn sie normale Darmkeime erhielten, innerhalb von zwei Wochen 60 % mehr Körperfett ansetzten. In weiteren Studien stellten sie fest, dass sich die Darmflora der Mäuse der des Menschen hinsichtlich der Hauptarten ähnelt.
Sollte hierin der scheinbare Widerspruch versteckt sein, dass manche Menschen essen wie die Scheunendrescher, ohne zuzunehmen und dass manch Dicker schon beim Anblick des Essens zunimmt?
Die amerikanischen Erkenntnisse blieben lange für europäische Wissenschaftler nur reine Theorie, denn sie konnten keine eindeutigen Befunde beim Menschen reproduzieren. Ein effektiver Test zum Firmicuten-Nachweis stand den Analyse-Labors nicht zur Verfügung. Auf Grund methodischer Probleme verebbte die anfängliche Euphorie, einen entscheidenden Fettbaustein in der Entstehung der Adipositas gefunden zu haben. Zu viel Bakterien-DNA blockierte die Testergebnisse. Im Labor Drs. Hauss in Eckernförde ließ man jedoch nicht locker und experimentierte weiter mit Vorverdünnungsstufen. Seit Oktober 2010 steht nach Aussage der Mikrobiologin Christiane Pies nun ein Test zur Verfügung, der verlässliche Aussagen über das Firmicuten:Bacteroideten-Verhältnis gibt.
Darmflora beeinflusst Kalorienausbeute – Übergewicht fördert Firmicuten im Darm
Weniger Bacteroidetes und mehr Firmicutes scheinen die Darmflora von übergewichtigen Menschen zu charakterisieren im Vergleich mit schlanken Individuen. Dieser Unterschied äußert sich in erhöhter Energiegewinnung aus sonst unverdaulichen Kohlenhydraten. Firmicuten können zum Beispiel wasserunlösliche Ballaststoffe wie Zellulose besser abbauen als die Bacteroidetes. Das bedeutet eine zusätzliche Kalorienquelle. Bei vorherrschender Firmicuten-Flora stehen 150 bis 200 kcal mehr zur Verfügung, die dann in Fettgewebe gespeichert werden. Bisher war man bei einer durchschnittlichen Zufuhr von 20 g Ballaststoffen pro Tag von einer zusätzlichen Energieaufnahme von 37 kcal/Tag ausgegangen.
Möglicherweise werden die Schlüssel zu Übergewicht und Firmicuten-Überschuss bereits durch die Art der Geburt in die Wiege gelegt. Harvard-Medizinerin Susanna Huh und ihr Team fanden heraus, dass das Adipositas-Risiko für Kinder, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, doppelt so hoch ist wie bei einer Vaginalgeburt. Kaiserschnitt-Kinder, die nicht durch den Geburtskanal mit der Darmflora der Mutter „geimpft“ wurden, haben einen höheren Anteil an Firmicuten, die auch im weiteren Verlauf der Kindheit überproportional erhalten bleiben.
Mögliche Ernährungsmaßnahmen
Theoretisch ist durch eine kohlenhydratreduzierte Diät eine Förderung von Bacteroidetes-Arten möglich. Kundige Therapeuten empfehlen eine (Insulin-) Trennkost zur Unterstützung eines Adipositas-Plans. Der Verzehr von Kohlenhydraten soll dabei von Morgens bis abends gen Null tendieren, der Eiweißgehalt der Nahrung soll abends dominieren, um die nächtliche Fettverbrennung zu stimulieren. Ein Zusatz von präbiotischen Ballaststoffen wie Apfelpektin kann möglicherweise ebenfalls das Wachstum von Bacteroidetes-Arten anregen und die Produktion unerwünschter Ballaststoff-Energie verhindern.
Probiotika auf Dauer wirkungslos
Als therapeutische Maßnahme bei Nachweis der erhöhten Firmicuten-Population wird der Wiederaufbau der Darmflora mit Probiotika empfohlen. Ob diese therapeutische Darmfloratherapie mit Neuansiedlung „guter“ Bakterien von Erfolg gekrönt sein wird, ist fraglich. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass eine Probiotika-Zufuhr mit „Immunsystem-aufbauenden“ Keimen – wie sie in Actimel® oder Yacult® enthalten sind, keinen dauerhaften Erfolg verspricht. Ein Ansiedeln von Fremd-Bakterien als dauerhafte Mitbewohner der WG Darmflora ist über Jogurt kaum möglich, wie das Forschungsteam um Jeffrey Gordon in aktuellen Studien mit menschlichen Zwillingspaaren und keimfreien (gnobiotischen) Mäusen gezeigt hat. Trotz siebenwöchiger Zufuhr von täglich zwei Bechern probiotischen Jogurts ließ die etablierte Mikrobengemeinschaft bei vorübergehenden Gäste keine Neuansiedlung zu. Das gilt zumindest für eine gesunde Darmflora, ein Ersetzen von Krankheitskeimen durch Neubürger wurde nicht untersucht.
Naturheilkundliche Therapieansätze
Man muss schon weitere therapeutische Maßnahmen wie pH-Senkung, Anaerobier-Mittel (zum Beispiel E. Coli-Bakterien) oder auch ein homöopathisches Firmicuten C30-Präparat verabreichen, um nachhaltige Effekte bei der Wiederherstellung einer weniger Fett produzierenden Darmflora zu erreichen.