Am Freitag, dem 20. Mai 2011, meldet dpa, dass sich in Hamburg mehrere Menschen mit dem gefährlichen EHEC-Erreger infiziert haben. Betroffen seien seit Anfang Mai 12 Personen verschiedener Altersgruppen aus verschieden Stadtbezirken.
Noch ahnt niemand, dass sich hier eine der weltweit größten Infektionswellen mit einer besonders gefährlichen Art des Escherichia coli-Bakteriums anbahnt, dass nach nur 4 Wochen mehr als 3.500 Menschen in ganz Europa infiziert sein werden und dass mehr als 40 von ihnen versterben. Ungewöhnlich ist schon zu Beginn der Epidemie, dass überwiegend erwachsene Frauen betroffen sind, dass fast jeder dritte Patient unter Nierenfunktionsstörungen(HUS) leidet und dass neurologische Komplikationen beobachtet werden. Die Gesundheitsämter, Hygieniker und Ärzte stehen vor einem Rätsel. Manche vermuten sogar Bioterrorismus.
Das große Sterben
665 Jahre zuvor, im Jahre 1346, kämpft die Republik Genua mit den Tataren der Goldenen Horde um die Vormacht im Schwarzen Meer. Da bricht in den Gebieten der Tataren eine unerklärliche Seuche aus und erreicht auch das Heer des Dschani Beg, welches den genuesischen Handelsplatz Kaffa auf der Krim belagert. Es wird berichtet, dass die Tataren die von der Krankheit Dahingerafften mit Wurfmaschinen in die Stadt katapultierten und die Christen auf ihrer anschließenden Flucht die Seuche nach Italien einschleppten. Innerhalb von nur vier Jahren, von 1347-1351, breitet sich das „Große Sterben“ über ganz Europa aus und fordert schätzungsweise 25 Millionen Todesopfer. Die Ärzte stehen damals vor einem Rätsel, mancher Christ glaubt an eine Strafe Gottes.
Die Bezeichnung „Pest“ rührte dabei zunächst einfach vom lateinischen „pestis“ für Seuche oder Verderben her. Erst im Jahre 1894 entdeckte Alexander Yersin in Honkong den Erreger der Beulenpest Yersinia pestis. Doch ist dieses Bakterium auch für die mittelalterliche Pest verantwortlich?
War es die Pest?
Denn ungewöhnlich ist die schnelle Ausbreitungsgeschwindigkeit der Seuche im Mittelalter. Der Erreger Yersinia pestis wird normalerweise durch Flöhe von Ratten auf Menschen übertragen. Auf diesem Übertragungsweg lässt sich die rasante Ausbreitung der Erkrankung nur schwer erklären. Eine plausiblere Erklärung dafür wäre, dass eine hoch infektiöse Mensch-zu-Mensch-Übertragung stattgefunden hat.
Zum anderen entsprechen die mittelalterlichen Krankheitsverläufe oft nicht denen der heute bekannten Beulenpest mit Schwellungen im Achsel- und Leistenbereich. So wurde über anhaltendes Fieber, dunklen Stuhl und Harn und üblen Geruch geschrieben oder auch von „Pestilenz mit Blutspeien“ berichtet. Oft wurde eine mehrwöchige Inkubationszeit beobachtet, während diese bei der modernen Beulenpest höchstens 7-10 Tage und bei der sehr seltenen Lungenpest sogar nur 1-3 Tage beträgt.
Als überraschender dritter Punkt kommt hinzu, dass die mittelalterliche Pestilenz die höchste Opferzahl jeweils in den Sommermonaten hatte, während alle neuzeitlichen Pestepidemien ihr Maximum in den Wintermonaten aufwiesen. Aus diesen Gründen bezweifelten einige Forscher, dass es sich beim „Schwarzen Tod“ des Mittelalters um die Pest durch Yersinia pestis handelte. Sie vermuten andere Erreger als Auslöser der Infektion, wie hämorrhagische Viren (z. B. den Ebola-Virus), Cholera, Pocken oder noch völlig unbekannte Keime.
Ein neues, unbekanntes EHEC-Bakterium?
Während die EHEC-Infektionswelle im Juni 2011 ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, arbeiten Mediziner, Mikrobiologen und Molekularbiologen fieberhaft an der Identifizierung des Durchfallerregers. Es gilt, einen genetischen Fingerabdruck zu erstellen und diesen mit allen bisher bekannten EHEC-Stämmen zu vergleichen. Dies gelingt einem Forscherteam um Prof. Helge Karch vom HUS-Konsiliarlabor in Münster in Zusammenarbeit mit dem Robert-Koch-Institute Wernigerode. Sie stellen fest, dass der genetische Fingerabdruck stark einem in ihrer Kartei vorhandenem ähnelt. Dieser Erreger mit der Bezeichnung HUSEC041 wurde 2001 bei einem Kind mit blutigem Durchfall und HUS-Symptomatik isoliert. Charakteristisch ist, dass dieses E.coli-Bakterium Gifte, sogenannte Shigatoxine, produziert, die Nieren und Gehirn schädigen können.
Der neue Keim, der nun die Bezeichnung E.coli O104:H4 (Sequenztyp 678) erhält, besitzt jedoch darüber hinaus einige zusätzliche gefährliche Eigenschaften. Er kann fester an der Darmwand haften und ist gegen eine Vielzahl von Antibiotika resistent. Diese Eigenschaften hat er wahrscheinlich durch Tausch von Genschnipseln mit anderen Bakterien erworben. E.coli sind für diesen Gentausch über sogenannte „Plasmide“ bekannt.
Kann ein Heiliger helfen?
König Edward III. von England war missmutig. Er sollte jetzt also an den Feierlichkeiten zu Ehren des großen, heiligen Thomas Cantilupe in Hereford teilnehmen Lieber wäre auf zu einem Turnier aufgebrochen oder hätte den Krieg gegen Frankreich fortgesetzt. Doch nachdem er vor zwei Jahren nach harten Kämpfen die Hafenstadt Calais erobert hatte, war die große Seuche auch nach England übergesprungen und hatte Bauern und Soldaten hingerafft. Der Krieg war zum Erliegen gekommen. Viele glaubten, dass nur noch Gebete und Heilige sie retten könnten.
Aus diesem Grund war die Umbettung der sterblichen Reste von Thomas Cantilupe in einen neuen Schrein in der Hereforder Kathedrale im Herbst 1349 ein hoffnungsbeladenes Ereignis. Der Gebeine des Heiligen wurden in einer üppigen Prozession durch die Straßen der Stadt getragen, während viele Pestopfer in großen Pestgruben nahe der Kathedrale beigesetzt wurden.
Das Geheimnis der Gebeine aus Hereford
1993 beginnt in und um Hereford eine große archäologische Erforschung der Pestgräber aus dem Mittelalter. Aus einem Massengrab nahe der Kathedrale werden etliche menschliche Skelette aus der Zeit um 1350 geborgen und im Rahmen eines internationalen Projektes unter Beteiligung von Mainzer Wissenschaftlern auf DNS-Spuren möglicher Pesterreger untersucht. Zusätzlich werden auch Proben aus Pestgräbern aus Italien, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden untersucht. Die Wissenschaftler finden tatsächlich genetische Fingerabdrücke des Pesterregers Yersinia pestis. Somit ist ziemlich sicher bewiesen, dass der „Schwarze Tod“ des Mittelalters mit der durch Yersinia pestis hervorgerufenen Pest identisch ist.
Überraschend finden sie aber auch genetische Spuren von zwei heute unbekannten Stämmen des Pest-Erregers. Dies könnte eine Erklärung für den fulminanten Verlauf der Pestepidemie im Mittelalter sein. Die Menschen besaßen keine Immunität gegen diese besonderen Arten der Pestbakterien und vielleicht waren diese auch wesentlich infektiöser als die heute bekannten Stämme.
Pest, EHEC und kein Ende?
Die natürliche Fähigkeit von Bakterien und Viren zur Veränderung ihres Erbgutes wird auch in Zukunft neue Infektionen auslösen, weil es keine Impfungen dafür gibt. Der breite und unkontrollierte Einsatz von Antibiotika bewirkt zusätzlich, dass Erreger sich schnell anpassen und die vorhandenen Medikamente unwirksam werden Wie die EHEC-Epidemie aber zeigte, ist die moderne Molekularbiologie und Medizin in der Lage, neue, gefährliche Infektionserreger schnell zu identifizieren und eine wirksame Behandlung zu gewährleisten.