Fage: Herr Professor Klein, bisher wurden weltweit etwa 6000 seltene Erkrankungen registriert. Bis zu welcher Fallzahl gilt eine Krankheit als selten?
Prof. Klein: In Europa spricht man von einer seltenen Erkrankung, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen daran erkrankt sind. In den USA legt man die absolute Zahl von weniger als 200.000 innerhalb der Vereinigten Staaten erkrankten Menschen zugrunde.
Frage: Viele seltene Krankheiten zeigen sich bereits im Kindesalter. Worauf lässt sich das zurückführen?
Prof. Klein: Das hängt damit zusammen, dass die meisten seltenen Erkrankungen auf einen kleinen Webfehler in den Genen zurückzuführen sind. Diese Webfehler führen aufgrund des Defektes oft eines einzigen Gens zu Funktionsstörungen in der Entwicklung einer Zelle, eines Organs, oder des ganzen Organismus. Viele dieser Erkrankungen sind schwerwiegend, manche führen zum frühen Tod bereits im Kindesalter. Im Gegensatz dazu werden die weit verbreiteten Volkskrankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Adipositas, Krebserkrankungen durch komplexe intrinsische und extrinsische Faktoren hervorgerufen.
Frage: Gibt es geografische Schwerpunkte oder sozio-ökonomische Ursachen für das Auftreten seltener Krankheiten?
Prof. Klein: Seltene Erkrankungen gibt es überall, in allen Gesellschaftsschichten, in allen Ländern dieser Welt. Allerdings finden Sie in Kulturen, in denen Eltern häufiger blutsverwandt sind, häufiger genetische Defekte, die zu einer seltenen Erkrankung führen können. Trotzdem gehen wir auch in Deutschland, wo Blutsverwandtschaft eigentlich kein Thema ist, davon aus, dass drei bis vier Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung leiden.
Frage: Warum ist man davon abgekommen, die Krankheiten nach ihren Entdeckern, z.B. Morbus Fabry oder Wiskott-Aldrich Syndrom, zu benennen? Tragen nüchterne Etiketten wie P14-Defekt oder G6PC3-Defekt nicht noch mehr zur Verwaisung dieser Erkrankungen bei?
Prof. Klein: Ich glaube nicht, dass diese Etiketten noch mehr zur Verwaisung beitragen. Früher waren große Ärzte stolz darauf, wenn eine Krankheit nach ihrem Namen benannt wurde. Vielleicht hat das auch mit Eitelkeit zu tun. Das ist heute weniger von Bedeutung. Heute sind die Forschungsergebnisse zudem meist keine Einzelleistungen mehr, sondern haben viel mit Teamarbeit zu tun.
Frage: Welchen Nutzen bringt die Forschung zu seltenen Erkrankungen über die Diagnose und Therapie des einzelnen unmittelbar Betroffenen hinaus?
Prof. Klein: Ein ganz, ganz wichtiger Punkt. In der klinischen Praxis steht der einzelne Patient immer im Zentrum. Das Tun des Arztes basiert auf einer „praktischen Rationalität“ und zielt auf die Heilung eines individuellen Patienten. Wenn wir aber Forschung betreiben, dann ist es meistens so, dass die Ergebnisse dieser Aktivitäten dem einzelnen Patienten nur in Ausnahmefällen sofort zugutekommen. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn dient zunächst der Allgemeinheit. Wir lernen bei der Erforschung der seltenen Erkrankungen sehr viel über den Mechanismus von Gesundheit und Krankheit. Jede dieser Krankheiten ist gleichsam ein Puzzleteilchen, und wenn wir all diese Puzzleteile zusammensetzen, dann erhalten wir einen Überblick über das Panorama dieser Materie. Allerdings gibt es gerade bei der Erforschung seltener Erkrankungen oft auch Sternstunden – immer dann, wenn die Ergebnisse der Forschung sich ganz konkret bei individuellen Patienten anwenden lassen. Die Forschung kann dem einzelnen Patienten also entweder indirekt oder aber auch sehr direkt helfen.
Frage: Können Sie an einem Fallbeispiel verdeutlichen, wie der Weg von der Konfrontation mit den Symptomen über das Erkennen des – meist genetischen – Defekts bis zur eventuellen erfolgreichen Therapie einer seltenen Erkrankung verläuft?
Prof. Klein: Es ist immer wieder das Gleiche. Die Kinder und ihre Eltern fragen, warum bin ich überhaupt krank, warum sind meine Freunde gesund und ich krank? Wir nehmen diese Fragen auf und versuchen sie im Labor zu klären. Dieser Weg vom Patienten ins Labor und im günstigsten Fall wieder zurück zum Patienten dauert oft viele Jahre. Im Fall des kleinen Murat konnten wir einen neuen Gendefekt identifizierten und auf der Basis dieses Wissens ganz neue Schritte einer Behandlung einleiten. Murat litt seit seiner Geburt an einer ungewöhnlich schweren Form einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung. Er verbrachte die meiste Zeit seines jungen Lebens im Krankenhaus, Keine Therapie konnte ihm helfen. Erst als wir nach drei Jahren Forschungsarbeit im Labor herausgefunden hatten, dass seine Immunzellen aufgrund eines „Antennendefektes“ keine „Abschaltsignale“ empfangen konnten, wurde klar, dass er durch eine allogene Blutstammzelltransplantation [Transplantation mit Blutstammzellen eines gesunden und immunologisch geeigneten Fremdspenders, d. Autor] möglicherweise geheilt werden könnte. Das haben wir gewagt – glücklicherweise mit Erfolg! Heute sind die Symptome der Darmentzündung verschwunden und Murat entwickelt sich als gesundes Kind. [Murat wurde am Tag des Gesprächs den Gästen im Esslinger Alten Rathaus vorgestellt, d. Autor]. Für die Verbindung der klinischen mit der grundlegenden naturwissenschaftlichen Arbeit braucht man einen sehr langen Atem. Natürlich sind dafür auch finanzielle Zuwendungen durch Spenden oder Fördermitteln für die Forschung erforderlich.
Frage: Wie gelingt es Ihnen, medizinische Grundlagenforschung und klinische Praxis auf hohem Niveau zu verbinden?
Prof. Klein: Es ist immer ein Spagat, das gebe ich ganz ehrlich zu. Ich habe mich von Beginn meiner ärztlichen Tätigkeit an immer auch für andere Welten interessiert, insbesondere für die Welt der Grundlagenwissenschaft. Es ist wichtig, dass wir junge Ärztinnen und Ärzte ausbilden, die über die Horizonte ihrer eigenen Disziplin hinausblicken. Das ist nicht jedermanns Sache, denn im Grunde kommt zur Facharztausbildung, die in der Kinderheilkunde fünf Jahre dauert, noch eine weitere Ausbildung in der Wissenschaft hinzu. Aber nur auf diese Weise können wir dem Anspruch gerecht werden, die Grundlagen der Erkrankungen aufzuklären und neue Therapiechancen für Kinder mit immer noch unheilbaren Erkrankungen zu eröffnen. Deshalb versuche ich auch, an unserer Klinik in München, junge Ärzte für diesen Weg zu begeistern.
Frage: Worauf gründet sich der jährliche Tag der seltenen Krankheiten (Rare disease day), der immer am letzten Februartag in mehr als 40 Nationen begangen wird?
Prof. Klein: Professor Hildebrandt, einer der Gründerväter der ACHSE (Allianz chronisch seltener Erkrankungen) hat den 29. Februar (bzw. den 28. Februar in allen Jahren, die keinen Schalttag haben) ins Leben gerufen. Es war eine europäische Initiative, die mittlerweile auch in nicht-europäischen Ländern aufgegriffen wurde. Seit einigen Jahren machen die Patientenorganisationen, die eine sehr positive Rolle spielen, an diesem Tag weltweit auf die Waisen der Medizin – die seltenen Erkrankungen – aufmerksam. In Deutschland hat sich dieser Tag mittlerweile etabliert und wird zur Übergabe von Forschungspreisen genutzt. Auch die Medien gehen darauf ein, sodass die Öffentlichkeit davon erfährt.
Frage: Gibt es seitens der Pharmaindustrie Unterstützung bei der Entwicklung von Medikamenten gegen Leiden, die nur wenige Menschen treffen?
Prof. Klein: Die mächtigen Pharmakonzerne interessieren sich vor allem für die großen Volkskrankheiten in den USA und in Europa, wo die kaufstarken Patienten warten. Das ist auch insofern nicht verwerflich, da ein Unternehmen schauen muss, wo der Gewinn herkommt. Es gibt jedoch eine Reihe von kleinen Biotechnologieunternehmen, die diese Nischenmärkte erkannt haben. Sie versuchen, für eine ganz gezielte Indikation, für eine sehr geringe Patientenzahl Medikamente zu entwickeln, die sie dann sehr teuer verkaufen. Aber grundsätzlich ist zu beklagen, dass immer noch zu wenig Forschung läuft an diesen seltenen Erkrankungen. Es wäre wünschenswert, dass hier sowohl die Industrie als auch die Forschungsförderer mehr tun.
Frage: Wer sind denn die Forschungsförderer, die helfen, jene Mechanismen zu erkennen, die seltene Erkrankungen verursachen?
Prof. Klein: Dazu gehören zum Einen die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der größte Forschungsförderer in Deutschland. Dazu gehören Programme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Auch die Europäische Union wird zu einem immer wichtigeren Partner, wo es Programme zur Forschung über seltene Erkrankungen gibt. Insgesamt ist das aber noch zu wenig.
Frage: Wie gestaltet sich die internationale Zusammenarbeit in der Erforschung und praktischen Behandlung seltener Krankheiten?
Prof. Klein: Wenn Sie eine seltene Erkrankung haben, an der in einem Land vielleicht 20 oder 30 Patienten leiden, dann müssen Sie über die Grenzen Ihres Landes blicken, wenn Sie wirklich vorankommen wollen. Aus diesem Grund sind all jene, die im Bereich der seltenen Erkrankungen forschen, international vernetzt. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, denn durch die Vernetzung können auch Kollegen aus weniger entwickelten Ländern teilhaben an diesen Forschungsprojekten. Wir geben Kindern aus Pakistan oder Ägypten Zugang zur modernen Medizin und gelangen über diese internationalen Wege auch zu Erkenntnissen, die wieder den Patienten in Europa oder den USA zugutekommen.
Frage: Ihre Stiftung war 2012 bei der erstmaligen Vergabe des Dr. Holger Müller Forschungspreises beteiligt. Was soll durch diese Preisverleihung bewirkt werden?
Prof. Klein: Ich glaube es ist ganz wichtig, dass wir in der Bevölkerung ein Bewusstsein wecken für seltene Erkrankungen. Immerhin kommen zu dieser Preisverleihung, bei der wir hier miteinander sprechen, 150 Menschen zusammen, die bisher kaum einen Bezug zu diesem Thema hatten. Die gehen nun recht nachdenklich nach Hause. Für den Preisträger ist es natürlich eine Bestärkung, in seinem Forschungseinsatz fortzufahren, denn viele Wissenschaftler scheuen das Feld der seltenen Erkrankungen.
Frage: Ihre Stiftung widmet sich unter anderem der Information und Aufklärung von Medizinern, Patienten und der Öffentlichkeit. Eine eindrucksvolle Fotoausstellung gehört beispielsweise dazu. Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie, um das Bewusstsein für dieses Thema zu stärken?
Prof. Klein: Wir sind stets für innovative Ideen offen – wenn Sie eine haben [lacht spitzbübisch]. Ich glaube, wir müssen aber auch Brücken bauen, nicht nur zwischen den Menschen unterschiedlicher Kulturen, den Wissenschaften und den verschiedenen medizinischen Spezialdisziplinen. Wir brauchen auch tragfähige Brücken in andere Bereiche der Gesellschaft, in die Medien, in die Politik, in die Wirtschaft. Preisverleihungen oder Fotogalerien können dazu beitragen, aber ich wünsche mir noch ein viel stärkeres Engagement der Wirtschaft, vor allem der Großindustrie. Ich war lange in den USA, dort ist es viel selbstverständlicher, dass Menschen, die etwas erreicht haben, auch etwas zurückgeben an die Gesellschaft.
Frage: Können Sie Ihrem Leitsatz „Helfen, Forschen, Heilen“ an Ihrer jetzigen Wirkungsstätte in München noch besser folgen?
Prof. Klein: Dieser Dreiklang ist für uns sehr wichtig. Zu allererst kommt das Helfen, auch wenn wir dem Patienten und seinen Eltern zunächst einmal nur zuhören. Ich glaube ein Arzt, der nicht beseelt ist vom Wunsch, seinen Patienten zu helfen, ist kein guter Arzt. Aber dabei sollten wir nicht stehen bleiben, sondern die Grundlagen der Erkrankung erforschen und daraus neue Therapieansätze ableiten, um mit diesen dann den Patienten auch irgendwann heilen zu können. Man kann diesem Dreiklang folgen, wo immer man arbeitet. Für mich ist München ein besonderer Standort. Ich hab‘ dort studiert, hab‘ eine enge Beziehung auch persönlicher Natur zu dieser Stadt. Die LMU ist eine wunderbare Universität, die ein weites Spektrum der Disziplinen abbildet. Weil ich ein Mensch bin, der gern Brücken baut, auch zu anderen Disziplinen, fühle ich mich in München sehr wohl.
Frage: Sie haben neben Medizin auch Philosophie studiert. Wie hilft Ihnen das in Ihrer täglichen Arbeit und ganz besonders als Stifter?
Prof. Klein: Ich hab‘ Philosophie studiert, weil ich aus einer angeborenen Neugier heraus den Dingen immer auf den Grund gehen möchte. Die Philosophie lehrt ein sehr strukturiertes Denken. Ich glaube, dass diese Schule, die ich da durchlaufen habe, mir sehr entgegenkommt, wenn es darum geht, die Grenzen meiner eigenen Disziplin zu definieren. Sie können auf Ihrem Spezialgebiet sehr gute Arbeit leisten und dennoch das Falsche tun, weil Ihnen der Blick für das Ganze verlorengeht. Die Komplexität nicht aus dem Auge zu verlieren, kann die Philosophie lehren.
Frage: Worin besteht für Sie das Wesen einer Stiftung und was würden Sie als Kultur des Stiftens bezeichnen?
Prof. Klein: Eine Stiftung ist ein wenig wie ein Kind. Sie gründen eine Stiftung, Sie engagieren sich da, Sie stecken da viel Herzblut hinein, weil Sie von der Idee überzeugt sind. So ging es mir auch mit der Care-for-Rare-Foundation. Zuerst war da meine Ohnmacht, nicht allen Kindern helfen zu können, weil einfach die finanziellen Mittel fehlten. Die Stiftung sollte diesen Mangel beheben. Mittlerweile hat sich unsere Vision deutlich erweitert und wir stoßen in Welten vor, die wir vorher nicht kannten. Dazu gehört ein für mich ganz wunderbarer Aspekt, dass wir auch ein wenig zur Völkerverständigung beitragen. Wenn wir ein palästinensisches Baby aus dem Gazastreifen mit einem todbringenden Immundefekt auf einmal in Tel Aviv mit Hilfe eines Sponsors, der Israeli ist, behandeln können, dann wird etwas von einer positiven Energie deutlich. Diese kann scheinbar unüberwindliche religiöse oder kulturelle Gräben überwinden helfen. Ich glaube, eine Stiftung ist vielleicht dann eine tatsächlich gute Stiftung, wenn sie auf diese Weise auch völlig Unvorhergesehenes Wirklichkeit werden lässt.