Was unterscheidet ein sprachliches „und“ von dem Pluszeichen in der Mathematik? Semantisch nichts, pragmatisch eine ganze Menge.
Es ist bereits oft darauf hingewiesen worden, dass das Kooperationsprinzip von Grice ein ausgezeichnetes Werkzeug ist, um Ironie zu erklären. Doch auch andere sprachliche Phänomene können entschlüsselt werden, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Konversationsmaximen betrachtet. Dazu zählt ebenso der Gebrauch der Konjunktion „und“.
Drei plus vier ist gleich sieben, vier plus drei aber auch
Rein semantisch betrachtet, funktioniert das Wort „und“ tatsächlich wie ein Pluszeichen: Es verknüpft zwei Aussagen miteinander, addiert sie sozusagen. In der Mathematik sieht eine Addition so aus:
3 + 4 = 7
Auffallend ist, dass es keine Rolle spielt, in welcher Reihenfolge die mit „plus“ verknüpften Zahlen genannt werden; man könnte also genau so gut sagen:
4 + 3 = 7
und das Ergebnis wäre identisch. Diese Feststellung erschien den Mathematikern so bedeutend, dass sie sie gleich in den Rang eines Gesetzes erhoben: das Kommutativgesetz. Das Wort stammt vom Lateinischen commutare, was vertauschen bedeutet und sich fachsprachlich etwa im französischen commuter erhalten hat. Das Kommutativgesetz besagt, dass das Vertauschen dessen, was links und rechts des Pluszeichens steht – der Summanden – nichts am Wahrheitswert der Aussage, in diesem Fall des Rechenergebnisses, ändert.
Nun verknüpft „und“ auch Aussagen miteinander und zwar, anders als die nebensatzeinleitenden Konjunktionen (obwohl, damit, sobald…), auf gleicher Ebene. Dies sei an folgendem Beispiel überprüft:
1) Paris ist die Hauptstadt von Frankreich, und Wien ist die Hauptstadt von Österreich.
Man erkennt sofort, dass hier keine Form der Subordination (Unterordnung) vorliegt: Grammatikalisch betrachtet, sind es zwei Hauptsätze, die beide für sich alleine stehen können.
Werden sie miteinander vertauscht, so ergibt sich
2) Wien ist die Hauptstadt von Österreich, und Paris ist die Hauptstadt von Frankreich.
Beide Sätze sind semantisch identisch. Es scheint also auf den ersten Blick so, als könne man, ganz wie in der Mathematik, die mit und „addierten“ Teile vertauschen, ohne dass sich das Ergebnis, der Wahrheitswert der Gesamtaussage, ändert.
Doch schon folgendes Beispiel lässt einen skeptisch werden:
Paul und das Bier
3) Paul fuhr nach Hause und trank drei Bier.
Hier sind, wie in 1) und 2) auch, Aussagen miteinander verknüpft. Wird die Reihenfolge nun vertauscht, so ergibt sich:
4) Paul trank drei Bier und fuhr nach Hause.
Offenbar sagen 3) und 4) unterschiedliche Dinge aus. Nur worin besteht dieser Unterschied? In 3) genießt Paul seinen wohlverdienten Feierabend, in 4) handelt er grob verantwortungslos und bringt sich und andere in Gefahr.
Wie kommt dieser Unterschied zustande? Es ist ersichtlich, dass die zeitliche Abfolge eine Rolle spielt, also aufeinander folgende Handlungen, die mit „und“ verknüpft werden, nicht verändert werden können, ohne die Gesamtaussage zu ändern. Während allgemeingültige Aussagen dafür sorgen, dass ein verknüpfendes „und“ rein semantisch interpretiert wird, gleichsam als Pluszeichen, das Teile einer Aufzählung miteinander addiert, wird ein „und“, das Handlungen verknüpft, gelesen als „und dann“. Oder, die Frage nach der Henne und dem Ei, umgekehrt: Ein logisch-semantisches „und“ führt zur Interpretation eines Satzes als allgemeine Aussage.
Woher kommt dieser „Mehrwert“ an Information? Gibt es zwei verschiedene „unds“, die zufällig gleich geschrieben und gesprochen werden? Das könnte man postulieren, doch käme man dann rasch in Teufels Küche, denn was macht man mit Sätzen wie
5) Paul schrieb ein Buch und wurde ein berühmter Autor.
Hier neigt man dazu, einen Kausalzusammenhang anzunehmen: Paul wurde aufgrund dieses Buches ein berühmter Autor, obwohl die Oberflächenstruktur von 5) keine Wörter enthält, die Kausalität ausdrücken (deswegen, deshalb…). Man müsste also gleichfalls die Existenz eines kausalen „und“ postulieren und noch eine ganze Menge weiterer „unds“, etwa eines adversativen, das gelesen wird als „wohingegen“, wie in
6) Paul hat geholfen und Peter nicht.
Die Maxime der Modalität
Eleganter ist es, weiterhin von der Existenz nur eines „und“ auszugehen. Das Mehr an Information ist dann nicht in der Semantik (wörtlichen Bedeutung) von „und“ enthalten, sondern wird pragmatisch aufgrund des Kontextes abgeleitet: Wenn es etwa eine zeitliche Abfolge von Handlungen gibt wie in 3), dann unterstelle ich einem Gesprächspartner, dass er so kooperativ ist, dass er in der Wiedergabe diese Reihenfolge auch berücksichtigt. Kurz: Ich unterstelle, dass er sich an Punkt vier der Maxime der Modalität hält. So scheinbar banal sich diese Erkenntnis zunächst anhören mag, sie hat doch weitreichende Konsequenzen für die Grammatik.
Allgemeine Aussagen im Englischen und Französischen
Nehmen wir an, im Englischen würde ein Gesprächsteilnehmer fragen „What did Paul do yesterday?“ und bekäme als Antwort „He just drove home and drank three beer.“ Würde man diese Aussage nun in der indirekten Rede wiedergeben und ein satzeinleitendes Verb in der Vergangenheit wählen, so griffe die Regel, dass in der reported speech alle Zeiten um eine Stufe zurückversetzt werden: „Peter said that Paul had just driven home and had drunk three beer.“
In einem Gesprächskontext aber, der keine temporale Implikatur von „und“ auslöst, wäre das backshift of tenses optional. Wenn Peter also in der direkten Rede sagt „Paris is the capital of France, and Vienna is the capital of Austria“, so wäre eine indirekte Wiedergabe wie in 7) möglich:
7) Peter said that Paris is the capital of France, and Vienna is the capital of Austria.
Auch im Französischen spielt die Unterscheidung zwischen allgemeingültigen Aussagen und aufeinander folgenden Handlungen eine große Rolle.
Allgemeine Aussagen, die keine abgeschlossenen (perfektiven) Handlungen wiedergeben, stehen in der Vergangenheit im Imparfait; so könnte man etwa sagen:
8) Déjà au 19ième siècle, Paris était la capitale de la France, et Vienne celle-ci de l’Autriche.
Pauls Feierabendverhalten hingegen – unabhängig davon, in welcher Reihenfolge sich die Geschichte abspielt – wird zunächst als Handlungskette aufgefasst. Sofern Paul also nicht jeden Abend zur Flasche greift, sondern von einer einmaligen und abgeschlossenen Folge von Handlungen die Rede ist, müsste zur Wiedergabe eine Zeit gewählt werden, die Perfektivität ausdrückt: Die erste Wahl fiele demnach auf die zusammengesetzte Vergangenheit (passé composé), aber schriftlich wäre natürlich auch die einfache Form möglich, die kein Hilfsverb benötigt (passé simple).
Dies sind nur zwei Beispiele von vielen dafür, wie Implikaturen nicht nur an der Schnittstelle zwischen Semantik und Pragmatik wirken, sondern das Regelwerk – also die Grammatik – einer Sprache selbst beeinflussen. Um so verwunderlicher ist es, dass die Grice’schen Maximen bisher kein fester Bestandteil der Lehrpläne für Sprachen sind.