Vom Ursprung der Moral: Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Was ist der Ursprung von Moral? Die Verhaltensforschung belegt, dass sie nicht spezifisch menschlich, rational und kulturell ist. Mitgefühl und Moral sind Instinkte.
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts beherrschte der Darwinismus die wissenschaftlichen Diskurse. Nur die Stärksten – eigentlich ja die Bestangepassten – überleben. War dies auf die Durchsetzungsfähigkeit von Genen bezogen, scheint sich heute diese Theorie in Form des Sozialdarwinismus als Maxime durch die Leistungsgesellschaft zu ziehen, in der man als Mensch nur noch zählt, wenn man funktioniert. Und auch die Entwicklungen der Globalisierung legen die Vermutung nahe, dass nur überlebt, wer auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist.
In der evolutionären Psychologie, ein Ableger des Darwinismus, haben Mitgefühl, Selbstlosigkeit, ja die Moral schlechthin, nichts zu suchen. „Kratz einen Altruisten, und du siehst einen Heuchler bluten!“ zitiert Spiegel online in dem Artikel „Vom tierischen Mitgefühl“ vom 6. Oktober 2008 Michael Ghiselin, den Erfinder der evolutionären Psychologie. Moral ist nach dessen Theorie nicht im menschlichen Hirn verankert, sondern durch Kultur zum Eigennutz antrainiert, damit man als „Wolf unter Wölfen“ nicht ständig um sein Leben fürchten muss. Als letzte Bastionen der Moral standen lange Zeit die Religionen allein da, und selbst dort brökelt es dann und wann gewaltig.
Es machen sich aber Stimmen laut, die behaupten, dass Moral sehr wohl zur biologischen Ausstattung des Menschen gehören und dieser von Natur aus nicht nur eigennützig und „böse“ ist. Einer, der seine Stimme erhebt, ist dabei der Psychologe Frans de Waal. In seinem Buch „Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte.“ beschreibt er seine Theorie vom Ursprung der Moral. Im Zuge seiner Verhaltensforschung an Menschenaffen konnte er bei diesen Konfliktlösungsstrategien wie Tröstung und Dankbarkeit, Empathie, Gemeinschaftssinn und Gerechtigkeitsempfinden feststellen. Daraus schließt er, dass Moral etwas Natürliches ist, das sich auf der Ebene des Empfindens vom Tier bis hin zum Menschen entwickelt hat und fest im biologischen Programm verankert ist.
Theorien zur Entwicklung des Altruismus
Die Unvereinbarkeit von Mitgefühl, Selbstlosigkeit und Gemeinsinn mit dem Darwinismus hat schon dem Erfinder desselben Probleme bereitet. Denn nach der Theorie der natürlichen Selektion möchte der Einzelne das Beste für sich herausschlagen, um seine Gene zu verbreiten. Selbstlosigkeit steht diesem Instinkt entgegen. Diese Unvereinbarkeit zu umgehen, kam Darwin auf die Idee der Gruppenauslese. Wenn der Einzelne mit Selbstlosigkeit schon nicht zu seinem eigenen Vorteil handelt, so doch zum Vorteil seines Stammes, um diesen in Konkurrenz mit einem anderen Stamm zu stärken.
Der berühmte Verhaltensforscher Konrad Lorenz sprang auf diesen Zug auf und förderte die Idee der Arterhaltung. Danach handeln Tiere ihren eigenen Artgenossen gegenüber altruistisch, damit sich die Art als solche durchsetzt. Diese Theorie schien manchen Forschern mit dem Darwinismus nicht vereinbar genug und sie verfeinerten sie zur Verwandtenselektion: Lebewesen handeln nur altruistisch, wenn es sich um Verwandte handelt, also eine Chance fürs Überleben der eigenen Gene besteht. Altruismus aus Egoismus war mit dem Darwinismus wieder vereinbar.
Ein Forscher namens Samuel Bowles stellte erst kürzlich seine These im Fachblatt „Science“ vor, dass der Ursprung des Gemeinsinns im Kampf zu finden sei. Erbanlagen, die selbstloses Verhalten fördern, setzen sich in der Evolution nur durch, wenn sie zum Vorteil werden. Zu Zeiten des Friedens sind altruistische Verhaltensweisen weniger nötig, aber Krieg fördert Zusammenhalt und Zusammenhalt das Überleben in der Gruppe. Altruismus wird in Krisenzeiten mit Überleben belohnt.
Moral ist natürlich
Was auch immer die Ursache für die altruistischen Gene ist, nach de Waal sind Kooperation und Einfühlungsvermögen schon bei den Menschenaffen zu beobachten. Zum Ärgernis der Vernuftsphilosophen wird Moral hier auf die emotionale Ebene gesetzt und in Hirnregionen, die älter sind als unsere rationale Idee von Moral.
Dass Mitgefühl Teil unseres biologischen Programmes ist, wissen wir spätesten seit Entdeckung der Spiegelneuronen. Das sind Zellen im Gehirn, die in Interaktion mit anderen Menschen aktiviert werden. Sie bewirken, dass wir zusammenzucken, auch wenn sich jemand anders in den Finger schneidet. Wir fühlen in dem Moment mit ihm mit, auch wenn wir selbst keinen Schmerz empfinden. Spiegelneuronen und Mitgefühl bilden sich allerdings nur in direkter Interaktion mit anderen Menschen aus. Menschengesichter auf Bildschirmen von Fernseher oder Computer lösen diese Entwicklung nicht aus. Ein Anreiz, die geringe Hemmschwelle durch zu wenig Mitgefühl in der Jugendgewalt zu diskutieren.
De Waal kommt zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass wir soziale Instinkte besitzen und nicht getarnte eigennützige, egoistische Kreaturen sind, die von Natur aus nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Dies unterschreibt auch Dacher Keltner, ein Vertreter der positiven Psychologie. Er stellt heraus, dass Eigenschaften wie Großzügigkeit, Dankbarkeit und Mitgefühl damit belohnt werden, dass man mit Menschen mit diesen Eigenschaften bevorzugt Freundschaften schließt. Außerdem zeigt er auf, dass Freundlichkeit und Mitgefühl der Gesundheit dienlich sind. Helfen und Geben lösen Reaktionen in bestimmten Hirnregionen aus, die uns mit Glücksgefühl belohnen und das Immunsystem stärken. Reaktionen also, die mit einem von außen aufgedrückten Moralverständnis nicht zu erklären sind.