Es droht der Verlust eines bedeutenden Kulturgutes: Die Schönschrift unserer Vorfahren.
Sütterlin, Kurrent, Fraktur …
Schriften von vorgestern, oder schon ganz vergessen?
Auch wenn es um die Handschrift geht ist es unumgänglich, die Betrachtungen mit der gebrochenen Schrift, der Fraktur, und damit mit der Druckschrift zu beginnen. Es sind große Mengen an Tinte und Druckerfarbe verbraucht worden, um den Wandel der Schrift bis zum heutigen Erscheinungsbild zu beschreiben, zu erläutern und zu erklären. Fest steht jedoch, dass es bereits vor über einhundert Jahren in den Schullesebüchern (vgl. Schul-Lesebuch für die Provinz Pommern von 1884) ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Frakturschrift und der lateinischen Schrift (auch Antiqua) gab. Man trennte zwar manchmal etwas zwischen der allgemeinen Anwendung, für die es die verschiedensten Frakturschriften gab, und der Anwendung im „wissenschaftlichen“ Bereich. So erhielt die lateinische Schrift auch den Beinahmen Gelehrtenschrift. Im Bereich der Handschriften trat diese Trennung weniger in Erscheinung, obwohl auch Aufzeichnungen von Wissenschaftlern aus dieser Zeit bereits in lateinischer Handschrift getätigt wurden. Die Schreibschrift in alter deutscher Schrift war immer der Inbegriff der Schönschrift. Man glaubte nicht zu Unrecht aus einem handgeschriebenen Text Rückschlüsse auf grundlegende Eigenschaften des Schreibers ziehen zu können. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass der handgeschriebene Lebenslauf bis in die jüngste Zeit eine Forderung vorgesetzter Stellen war. Und bis heute glauben Graphologen aus der Handschrift umfangreiche Analysen über die Person des Schreibers ableiten zu können. Aus dieser Schönschrift entwickelten Kanzleischreiber und Urkundengestalter mit Verzierungen an den Buchstaben beachtenswerte Kunstwerke. Um hier wenigstens für die Ausbildung eine minimale Normung einzurichten, legte Herr Sütterlin den Entwurf zu einer Schulausgangsschrift vor, die Einzug in den Schulunterricht fand. Heute hört man fälschlicherweise häufig, dass alle alten Schriften „Sütterlin“ seien. Weniger bekannt ist, dass von Herrn Sütterlin auch eine Handschriftvorlage für die Schrift mit lateinischen Buchstaben stammt. Diese lateinische Handschrift war aber bis etwa 1940 nicht Bestandteil des Grundschulunterrichtes. Dann sollte alles anders werden. Für die in der Zeit um 1940 einschneidenden Veränderungen gibt es keine einheitlichen Auffassungen. Aus der lateinischen Schrift wurde jedenfalls die „Normalschrift“. Nach dem Kriegsende hatte das deutsche Volk andere Sorgen, als sich mit der Wahl der Schulschrift zu beschäftigen. Hinzukommt, dass die Besatzungsmächte die Wiedereinführung der alten deutschen Schrift nicht unterstützten bzw. sogar untersagten. In den folgenden Jahrzehnten bis heute gab es nur bescheidene Initiativen einzelner Interessierter oder regional begrenzter Gruppen von Gleichgesinnten, um etwas zu erhalten, was schon fast verloren scheint. Sollten wir uns nicht vor die Augen führen, dass hier ein bedeutendes Kulturgut unserer Vorfahren unterzugehen scheint? Die Werke der großen Meister, unabhängig, ob es nun Maler, Musiker, Literaten oder Baumeister waren, werden mit großem Aufwand restauriert und präsentiert und ein Jahrhunderte altes Kulturgut – die deutsche Schrift – wird einfach vergessen. Sind wir denn mit der bereits praktizierten Pflege des Kulturerbes so sehr überfordert, dass keine Kraft mehr vorhanden ist oder ist es einfach das Übersehen, weil keine Lust mehr auf weitere Kulturpflege besteht? Wir stehen heute bereits vor nachfolgend geschilderter Situation. Druckwerke in Frakturschrift zu lesen ist etwa für Leser im Rentenalter kein Problem, bereitet aber der Generation der Berufstätigen bereits Schwierigkeiten. Der Generation, die sich im Ausbildungsalter befindet, gelingt es nur mit Schwierigkeiten, aus den gedanklich mühsam ins lateinische Schriftbild übertragenen Einzelbuchstaben einen zusammenhängenden Sinn zu erkennen. Das waren aber nur die Probleme mit den gedruckten Frakturschriften. Die Handschrift lesen und verstehen zu können, ist heute bereits für sehr viele eine echte Herausforderung. Wer kann sie schon noch fließend lesen, die Feldpostbriefe, und erkennt die Hoffnungen und Wünsche, die der Schreiber seinen Angehörigen übermittelte? Wer gibt sich Mühe, um Großmutters Tagebuch oder Großvaters Briefe zu lesen, die er an sie schrieb, als er um sie warb? Und wenn nun jemand als Familienforscher auf seinem Stammbaum herumklettern möchte, kommt er an der alten deutschen Schreibschrift nicht vorbei. Auch Archivare und Heimatforscher müssen sich mit dieser Problematik beschäftigen. Die Hürde ist nur, dass die Herrschaften, die diese Schrift noch in der Schule gelernt haben, heute über siebzig Jahre alt sind und damit selten motiviert sind, Interessierte sachkundig zu unterweisen. Etwa sechzigjährige Menschen haben evtl. einen Lebensabschnitt in Haushalten mit ihren Vorfahren zusammengelebt und sind möglicherweise in der Lage einfache Briefe zu lesen. In allen anderen Altersgruppen darunter findet man nur Enthusiasten, die im Selbstudium das versuchen zu erreichen, was ihnen die Schule nicht anbot. Wenn in diese Personengruppe nicht begeisterungsfähige Verjüngung hineinkommt, dann ist es um den Erhalt eines bedeutenden Kulturgutes sehr schlecht bestellt. Es ist „Fünf vor Zwölf“ um festzustellen, dass ohne Bemühungen auf breiter Ebene aus dieser Schrift in wenigen Jahren etwas unlesbar Fremdes geworden ist. Zu den letzten 50 Jahren der Verdrängung gehören wohl nur noch 20 Jahre, um die alte deutsche Handschrift völlig vergessen zu lassen. Leider ist festzustellen, dass einige „Sprachpflege“vereinigungen leider dem Kampf mit den bzw. gegen die Rechtschreibreformen unnötig viel Aufmerksamkeit widmen und dabei versäumen historisch Wertvolles zu erhalten und zu pflegen.
Aus dem bisher Genannten ist abzulesen, dass Stil und Schreibtechnik sowie auch die Ausdrucksform einem ständigen Wandel unterliegen. Diese zum Teil anpassenden oder auch vereinfachenden Veränderungen bzw. Reformierungen unserer Schrift sind aber auch unverkennbarer Hinweis darauf, dass unsere Schrift und Sprache etwas Lebendes darstellt, dem der Keim zur Veränderung innewohnt. Nur birgt diese ständige Anpassung an veränderte Anforderungen auch die Gefahr, dass Schönes, Vollkommenes und historisch Wertvolles aus vergangenen Zeiten weder bewahrt, noch gepflegt, sondern einfach vergessen wird.