Nach aussen scheinen Depressive häufig bedacht und ruhig. Das ist für sie Schwerstarbeit, denn innerlich sind sie voller Angst und Minderwertigkeitsgefühle.
Wenn Prominente sich in der Presse über ihren Kampf mit Depressionen äussern, ist das Interesse gross. Im normalen Alltag allerdings sieht es etwas anders aus: Wer das Unverständnis der Gesellschaft im Umgang mit der Depression am eigenen Leib erfahren hat, kann das bestätigen.
Als Berufstätiger, der krank wird, ist man in unserer Ellenbogengesellschaft schon mal lästig, weil kostspielig. Und selbst Freunde fühlen sich häufig überfordert. Die Furcht vor dem Stigma der Erkrankung bewirkt denn auch, dass viele Betroffene ohne jegliche professionelle Hilfe versuchen, das Leid irgendwie auszuhalten. Die Depression vergeht dann oft auch wieder von selbst. Nur: Die durch die Krankheit entstandenen Schäden sind meistens enorm.
Depressiven fehlt es an Willen und Durchhaltevermögen
„Nimm dich doch zusammen! Du musst nur wollen!“ Solche Ratschläge verdeutlichen die immer noch bestehende Ansicht, dass der Depressive nicht genügend hart mit sich selber ist, von den anderen immer alles erwartet, selber aber nichts macht und Probleme sieht, wo es keine gibt. Ein Mensch, der an den kleinsten Anforderungen des Alltags zerbricht, der schwierig und kompliziert ist, der sich gehen lässt und dessen Denken sich nur im Kreise dreht.
Informationskampagnen und Publikationen, in denen über alles gesprochen und geschrieben wurde, haben verdeutlicht, dass die Depression eine nicht zu verharmlosende Krankheit ist. Sieht man aber, wie den Betroffenen im Alltag häufig begegnet wird, merkt man, dass die Depression eine Krankheit ist, von der wohl alle sprechen, über die aber trotzdem nur sehr wenige genau Bescheid wissen.
Die Klassifikation der Krankheit stellt noch immer ein Problem dar
Depression bedeutet übersetzt soviel wie Niedergeschlagenheit, Traurigkeit oder bedrückte Stimmung. Weshalb Menschen depressiv werden, beschäftigt Wissenschaftler und Schriftgelehrte bereits seit der Antike. Im Laufe der Geschichte erfuhr die Ergründung dieser Krankheit immer wieder Erneuerungen und wurde später im Zusammenhang mit Lebenserfahrungen und seelischen Vorgängen sowie menschlichen Beziehungen, Überforderung und Stress betrachtet.
Die Krankheit umfasst eine Reihe von menschlichen, emotionalen und klinischen Zuständen und die Unterscheidung zwischen klinisch bedeutsamen Depressionen und normalen depressiven Verstimmungen benötigt klare Kriterien, wie beispielsweise Dauer und Anzahl der Symptome.
Zur Vereinheitlichung der Diagnose wurden in der 10. Revision der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) verschiedene Kriterien erfasst. Die Klassifikation von Depressionen stellt aber noch immer erhebliche Probleme dar.
Mehr als eine temporäre eingeschränkte Befindlichkeit
Schmerzliche Gefühle gehören zum Leben. Auch dann, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhalten. Jeder hat einmal einen schlechten Tag und erlebt vorübergehende Verstimmungen. Das depressive Erleben geht aber tiefer und ist hoffnungsloser als jedes intensive Gefühl der Traurigkeit.
Die Grenze zwischen einer normalen depressiven Verstimmung und Depression sind aber gerade deshalb schwer zu definieren, weil eine normale depressive Verstimmung durchaus zum Auslöser einer Depression werden kann.
Leben nach einem langjährig gelernten und bewährten Muster
Depressive Geschehen haben verschiedene Ursachen, die häufig zusammenwirken. Von grosser Bedeutung aber sind psychologische Faktoren. So ist der unter Depressionen leidende Mensch häufig gefangen in Mustern von Verhaltensweisen, die sich schadend gegen ihn selber richten. Diese Verhalten prägen das Wesentliche der Depression.
In seinen Büchern „Sie haben es doch gut gemeint“ und „Endlich frei“ beschreibt der Psychotherapeut Dr. Josef Giger-Bütler aus Luzern (Schweiz) das depressive Geschehen auf eine unter die Haut gehende Weise und er bestätigt anschaulich typisch „schadende“ Verhaltensmuster, die der Betroffene mit Hilfe einer Therapie ablegen kann und muss.
- Beispielsweise ständig den Zwang zu verspüren, immer alles so machen zu müssen, wie er glaubt, dass man es von ihm erwartet.
- Oder sich klein und lächerlich zu fühlen, wenn er sieht, wie andere (offensichtlich) alles leicht nehmen.
- Ebenso sich nichts zuzutrauen, obschon er eigentlich genau weiss, dass er einiges kann.
- Oder immer das Gefühl zu haben nicht zu genügen, auch wenn er etwas kompetent erledigt hat.
Der Psychotherapeut schreibt ebenfalls, dass Depressive häufig mehr als andere tun, aber dennoch weniger erreichen.
Depressive basteln unabsichtlich mit an den Bildern, die man von ihnen hat
Depressive Menschen bauen häufig eine Mauer um sich herum und versperren den anderen dadurch den Weg zu sich. Dies tun sie zum eigenen Schutz, denn sie wissen um die Bilder, die man sich von ihnen macht.
So verbergen sie aber nicht nur ihre Feinfühligkeit und ihr Einfühlungsvermögen, sondern auch ihre Ausdauer, Zielstrebigkeit und viele andere Stärken. In ihrer stillen häufig sehr hilfsbereiten Art werden sie unterschätzt und übersehen. Keiner ahnt, wie viel Kraft sie alles kostet.
Anders als in der Welt von Charlie Brown
Das depressive Erleben verändert den Menschen in tiefgehender Weise. So etwa durch blockiertes Entscheiden, eingeschränkte Einflussmöglichkeiten sowie kreisendes, grüblerisches, selbstanklagendes Denken.
Im Gegensatz zu Charlie Brown, der seine Bekümmernisse offen zeigen darf und dafür auch noch geliebt wird, ist der vom depressiven Geschehen Betroffene völlig auf sich selbst geworfen.
Er ist sich seiner Situation – seines Zustands der Hilflosigkeit und Abhängigkeit – bewusst und kann auch jetzt nicht von seiner Vorstellung lassen, dass nur der starke, tüchtige, leistungs- und anpassungsfähige Mensch überlebt.
Der Versuch, sich gegen diesen Zustand aufzulehnen, führt sehr häufig zu Unruhe und Schlaflosigkeit. Depressive sind nicht selten fest davon überzeugt, ihre Umgebung nur zu belasten, am Unglück ihrer Umwelt Schuld zu sein oder total zu verarmen.
Wenn für den Depressiven die Stunde der Wahrheit schlägt
Wenn der Depressive zu verstehen beginnt, dass er diesem diffusen Geschehen nicht mehr länger hilflos ausgeliefert sein muss, sondern aktiv an seiner Genesung teilnehmen kann, weil sein depressives Erleben mit seinem Selbst und seinem Selbstverständnis zu tun hat, beginnt für ihn ein langer, harter Weg. Gerade dann ist er aber auf das Wohlwollen seiner Umwelt angewiesen, um sich von der Krankheit zu befreien.