Frühbetroffene werden zur besonderen Herausforderung. Rund 2% der Menschen, bei denen die Alzheimer Krankheit diagnostiziert wurde, sind jünger als 65 Jahre. Das Netz der Hilfen ist auf diese Klientel nicht vorbereitet.
Die Alzheimer Krankheit, das „große Vergessen“, kommt bekanntlich in kleinen Schritten – bis die Ausfälle unübersehbar werden, bis Ratlosigkeit sich allenthalben breit macht, die Orientierung im Alltag nicht mehr gelingen will. Zutiefst verunsichert und ängstlich war auch jene Auguste D., als sie vor etwas mehr als 100 Jahren dem Frankfurter Irrenarzt Dr. Alois Alzheimer erstmals vorgestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Patientin gerade einmal 51 Jahre alt. Und hatte, wie sie sagte, sich bereits selbst verloren: das Erleben des geistigen Verfalls einer Frau im mittleren Lebensalter.
Damals war ihr umfassendes Vergessen, waren die Verstimmungen, die vielen kleinen und größeren Fehlleistungen im Alltag nicht einzuordnen. Heute hat die Krankheit einen Namen. Und doch: Die Zahl derer, die daran leiden, und das schon in vergleichsweise jungen Jahren, nehmen wir als Gesellschaft nicht wahr – beteiligen uns so erleichtert wie unüberlegt am „Verdrängungskomplott“, indem wir beschwichtigen und herabspielen, wo wir veränderte Befindlichkeit quasi schon mit den Händen greifen könnten, negieren und schweigen selbst beim Arztbesuch als Angehörige, indem wir aus Scham und Angst vor dem, was kommt, die Dinge nicht beim Namen nennen.
Eine Kleinstadt von an der Alzheimer Krankheit Betroffenen
Bei rund 20.000 Menschen, die das 65. Lebensjahr noch nicht erreicht haben, gilt in Deutschland die Alzheimer Krankheit als diagnostiziert; zugleich leiden unbekannt viele in derselben Altersklasse an demenziellen Symptomen, ohne dass eine Diagnose gestellt wurde. Damit aber kann auch keine gezielte Behandlung eingeleitet werden, die das Fortschreiten zumindest verlangsamen soll. Die genannte Zahl entstammt der Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2005; eine unbekannt hohe Dunkelziffer speist sich aus Fehldiagnosen, kollektivem Verdrängen und Herunterspielen der ersten Anzeichen.
Die Sozial-Pädagogin Antonia Scheib-Berten merkt dazu an: „Frühbetroffene neigen dazu, die Symptome als Folge eines Burnout zu sehen. Das liegt sogar nahe, denn wer von seinen beruflichen Verpflichtungen derart überfordert ist und die Rolle dessen, der souverän bewältigt, was immer von ihm erwartet wird, nicht länger erfüllt, sieht sich zwangsläufig als Opfer von Stress und Ausgebranntsein.“ Aber auch die Ärzte, zu deren Konsultation oft Angehörige oder sogar Vorgesetzte drängten, neigten dazu, eher an eine depressive Verstimmung zu denken oder an einen Leistungsknick infolge der Midlife Crisis. Eine zeitnahe Diagnosestellung „Demenz“ ist demnach die große Ausnahme.
Wir sehen nur, wo sich etwas schnell ändert
Ohnehin beinhaltet jede schleichende Veränderung ein Wahrnehmungsproblem. Abrupter Wechsel wird leichter, schneller, unmittelbar wahrgenommen. Sodann stoßen die Frühbetroffenen auf die mehrfache Problematik der Frühdiagnostik: Je eindeutiger, weiter fortgeschritten die Störungen, desto sicherer das Testresultat. In der Umkehrung bedeutet dies, dass die frühen Anzeichen der Alzheimer Krankheit nur wenig verlässlich objektiviert werden können. Ein anderes Problem sehen Laien spontan in der besonderen Tragik, wo die Demenz vergleichsweise früh konstatiert wird. Das aber gilt unter den Fachleuten heute eher als Chance.
„Die Betroffenen müssen alsbald erfahren, was ihr Befinden so verändert. Sie sollen nach dem ersten Schock genügend Zeit haben, all das zu erledigen, was sie bei noch klarem Verstand erledigen möchten, müssen sie doch für die Zeit danach, wenn die Krankheit fortgeschritten ist, planen und bestmöglich Vorsorge treffen. Manchmal sind die Kinder der Frühbetroffenen noch in Ausbildung, was besondere Probleme aufwerfen kann. Generell geht es um formale Dinge wie die Vorsorge- und Kontenvollmacht sowie das Testament und die Patientenverfügung, aber zugleich auch um zeitnahe Ziele, etwa die Gestaltung der nächsten Tage inklusive gemeinsamer Unternehmungen“, weiß A. Scheib-Berten. Die Diplom-Sozialpädagogin stieß in Mannheim in ihrer Arbeit mit Alzheimer-Angehörigengruppen in der Gerontopsychiatrie auf diesen speziellen Personenkreis. Und stellte dabei fest, dass die Betroffenen wie ihre Angehörigen derzeit weitgehend durch die Maschen des Netzes fallen, das doch gerade auffangen und den Absturz bremsen soll.
Ganz oben auf dem Wunschzettel: die Selbstbestimmung
Die Frühbetroffenen brauchen speziellere Angebote der psychosozialen Betreuung, aber die Helfer aus den verschiedensten Professionen sind auf sie, die noch so jungen oder jung erscheinenden Patienten, nicht vorbereitet. Die emotionale Not ist groß; Konzepte im Dienste der weitgehenden Selbstbestimmung der Betroffenen sind dringend gesucht. Aber vielleicht ist mehr noch nicht zu erwarten, wo die Fachwelt gerade erst erkennt, dass es diese spezielle Gruppe mit deutlicher Demenz schon vor Erreichen des Seniums überhaupt gibt. Es wirkt allerdings wie Hohn: Aufgrund des vergleichsweise jungen Alters der ersten bekannt gewordenen Patientin, jener Auguste D., war die Alzheimer Krankheit in den Lehrbüchern rund 70 Jahre lang als „präsenile Demenz“ eingestuft. Dann geriet den Fachleuten in den Blick, dass wir Langlebigkeit offenbar mit der großen Gefahr erkaufen, dement zu werden – je älter die untersuchten Menschen, desto häufiger auch die typischen Ablagerungen und Veränderungen im Gehirn. Das darauf folgende Umdenken, das auf entsprechenden Statistiken der Gerontopsychiater wie der obduzierenden Pathologen fußte, geschah wohl allzu gründlich; die jüngeren Betroffenen gerieten damit vorübergehend ins wissenschaftliche und diagnostische Niemandsland. Anders ausgedrückt: Kurioserweise fielen sie mit ihrem „großen Vergessen“, wie die Krankheit seit einiger Zeit umschrieben wird, dem „großen Vergessen“ auch der hirngesunden Fachleute und der Gesellschaft insgesamt anheim – eine folgenschwere Fehleinschätzung, die es nun zu korrigieren gilt.
Dr. Alois Alzheimer selbst starb übrigens bereits im Alter von 51 Jahren: ohne Anzeichen einer Demenz, soweit bekannt ist.