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Das Phänomen „Co-Alkoholismus“

Trinker machen auch ihre Familien krank

In Deutschland gibt es nach Schätzungen der Krankenkassen etwa 3 Millionen Alkoholiker. Doch die Suchtkranken richten nicht nur sich selbst zu Grunde.

Der erste Schritt: Das Eingeständnis der Co-Abhängigkeit

Ute M. hätte noch vor wenigen Wochen folgende Feststellung heftig verneint: „Mein Mann ist Alkoholiker. Und ich bin seine Co-Alkoholikerin.“ Nun spricht sie es aus und muss lächeln. „Es ist wie eine Erlösung“, so die 45jährige Hausfrau und Mutter dreier Kinder. „Seine Alkoholkrankheit hat die ganze Familie in die Hölle geschickt. Doch damit ist jetzt Schluss“.

Wann der Mann von Ute M. damit anfing, regelmäßig Alkohol zu trinken, lässt sich nur schätzen. Auffällig wurde sein Trinkverhalten vor etwa einem Jahr, als er begann, morgens Schnaps in seinen Kaffee zu kippen. Von seiner Frau zur Rede gestellt, wich er aus und erklärte: „Schatz, ich bin gerade wahnsinnig im Stress.“

Anzeichen für einen Cooperativen Alkoholismus

Die Frau begann, den geliebten Ehemann zu beschützen. Immer öfter war er abends so betrunken, dass sie für ihn Ausreden erfand, wenn er beispielsweise bei einem Besuch von Freunden plötzlich einfach ins Bett ging. „Er hat eine furchtbare Erkältung, er braucht viel Schlaf.“

Alkoholiker brauchen einen Großteil ihrer physischen und psychischen Kraft, um die Tatsache ihrer Abhängigkeits-Erkrankung zu vertuschen. In Selbsthilfegruppen wird häufig eine immer größer werdende allgemeine Erschöpfung beschrieben, die durch die Vorspiegelung eines „normalen“ gesellschaftlichen Lebens beim dem Süchtigen auftritt.

Doch mindestens ebenso groß ist oft der Kraftaufwand des unmittelbaren sozialen Umfeldes des aktiven Trinkers. Ehepartner, Lebensgefährten, Verwandte und Freunde beginnen, ebenso wie der Alkoholiker selbst ein Konstrukt aus Lügen und Verharmlosungen aufzubauen. Der Antrieb hierfür ist die Angst vor dem unvermeidlichen sozialen Abstieg und der Ächtung durch das private und berufliche Umfeld.

Fachleute warnen vor der selbstzerstörerischen Wirkung des Vertuschens des Alkoholismus

Psychiater und Psychologen sprechen hier vom „Co-Alkoholismus“. In einer seltsamen Form von Kooperation ist der Co-Alkoholiker dem Alkoholiker dabei behilflich, dessen Sucht zu verheimlichen, um den äußeren Schein des normalen Familienlebens zu wahren. Während sich der Abhängige nur noch um sich selbst und die Abwehr von Entzugserscheinungen kümmern kann, halten ihm die Co-Abhängigen gleichsam den Rücken frei. Er wird mit Nahrung versorgt, das Leergut wird unauffällig entsorgt, Anfragen vom Arbeitgeber, Nachbarn etc. werden mit immer neuen Lügen bedient.

Es gibt einen Weg heraus aus dem Dilemma der Angehörigen – doch der scheint brutal und herzlos.

Der Ausweg aus diesem Co-Alkoholismus ist ebenso einfach wie erschütternd für alle Beteiligten: Der Alkoholiker muss von dem Umfeld, das ihn vorher indirekt in seiner Sucht unterstützt hat, vollständig und bedingungslos verlassen werden. Eine räumliche Trennung ist ebenso erforderlich wie eine kommunikative. Die Familie, die vorher den Trinker noch versorgte, sollte sich von ihm abwenden und jeden Kontakt einstellen. So schwer das auch fallen mag. Allerdings nicht, ohne dem Betroffenen parallel dazu präzise mitzuteilen, warum er alleine gelassen wird. Etwa in einem gemeinsamen Brief aller Beteiligten an ihn. Erst jetzt kann das greifen, was Sucht-Experten „Tiefst-Punkt-Theorie“ nennen: Zurückgeworfen auf sich selbst, ohne jegliche Unterstützung muss der Alkoholiker inmitten der Scherben seiner früheren Existenz eine einsame Entscheidung treffen. Die über Entzug oder Weitertrinken. Über Leben oder Tod. Hier löst sich die Co-Abhängigkeit auf.

Mit anderen Betroffenen reden hilt sehr. Doch wo findet man die?

Familienmitglieder sprechen in Selbsthilfe-Gruppen für Angehörige von Alkoholikern vom Wegfall eines immensen Druckes allein durch den Kontakt mit anderen Leidenden. Es gibt zum Beispiel „Al-Anon“, die Angehörigengruppen der Anonymen Alkoholiker. Auch das Blaue Kreuz oder die Guttempler unterstützen Hilfesuchende. Alles passiert völlig anonym. Entscheidet der Suchtkranke sich für einen Entzug, steht einer erneuten Kontaktaufnahme zu seiner Familie nichts im Wege, doch die Prämisse sollte klar sein: Wird er rückfällig, erfolgt erneut die sofortige Trennung.

Für die Familie beginnt ein neues Leben ohne Sucht

Der Mann von Ute M. hat sich für einen Entzug entschieden. Heute sagt sie: „Er ist krank. Nicht ich oder die Kinder. Wenn er wieder saufen will, dann ohne uns!“