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Bildungsdebatte – wofür sollen Kinder lernen

Für das Leben lernen, nicht für die Schule. Wird noch humanistische Bildung im Humboldtschen Sinn geboten?

Das deutsche Bildungssystem gliedert sich nach wie vor nach dem alten System, das die Gesellschaftsstruktur widerspiegelt. In der Volksschule (heute: Hauptschule) wird das einfache Volk erzogen, in der Mittelschule (heute: Realschule) die Mittelschicht der Handwerker und Beamten, in der Oberschule (oder: Gymnasium) die geistige Elite herangezogen. Solange diese Gliederung erhalten bleibt, wird auch das System erhalten, in das die Schüler hineingebildet werden, sie lernen ja für das Leben in diesem System. So werden die Volks- und Mittelschüler als einzelne Räder in das vorherrschende Wirtschaftssystem eingeordnet.

Allein die geistige Elite soll die Fähigkeit erhalten, eine Übersicht, eine Sicht von außen zu genießen und in die Lage versetzt werden, den Lauf der Räder zu bestimmen oder gar neue Räderwerke zu entwickeln. Dazu wird in Kauf genommen, dass selbstständiges Denken entsteht, das auch mal das System an sich in Frage stellen kann. Auf den humanistischen Gymnasien war – und ist vielleicht noch – Alexander von Humboldt das Vorbild des universell Gelehrten. Doch diese Garantie auf eine umfassende Basisbildung ist durch die vielen Reformen in Gefahr, die einen Schnelldurchlauf erreichen wollen.

Die Einordnung in das Bildungsschichtensystem sichert den Bestand

Solange nicht ein durchlässiges Bildungssystem geschaffen wird, wird das alte System zementiert. Nach wie vor ist es für Kinder schwierig, aus einem Elternhaus, das einen geringeren Bildungshintergrund hat, in eine höhere „Bildungsschicht“ zu wechseln. Die Bildungschancen sind also grundsätzlich verschieden. Noch verstärkt wird dieser Zustand durch die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft, die sich immer mehr dem vorherrschenden Wirtschaftssystem anpasst und dabei den ganzheitlichen Blick, die Einsicht in die hinter der Fassade versteckten Zusammenhänge verstellt. Die Welt außerhalb der Schule ist überschwemmt von Produkten, die konsumiert werden sollen, von einer ständig wechselnden Szenekleidung bis zu der Unterhaltungsindustrie, was in einem Zwang gipfelt, unbedingt an einem „neuen Rausch des Erlebens“ teilhaben zu wollen.

Seit den 70er Jahren ist also auch die Jugendkultur zu einer Industrie geworden, die nicht mehr einen Freiraum für eine kreative und systemkritische Entwicklung bietet, sondern die Jugendlichen mit Antworten und einer fertigen Szenewelt überschwemmt. Kindern, die vollständig in ihrer Fantasy-Welt aufgehen ein „gutes Buch“ anzudrehen, sie für klassischer Literatur, Musik, Geschichte zu interessieren um ihnen eine Sicht auf den gegenwärtigen Zustand von einem anderen Standpunkt zu ermöglichen, ist außerordentlich schwierig. Der Unterhaltungswert von Kafkas Prozess oder Effi Briest hat es schwer gegen Lara Croft und Harry Potter. Dementsprechend hat sich der Campus einer jeden Universität gegenüber den 60er und 70er Jahren radikal verändert. Heute zählt nur noch das fachspezifische Wissen.

Die Schaffung immer neuer Sparten vernebelt eine ganzheitliche Sicht

Ein Architekt muss einen universellen Blick auf das Bauen schlechthin haben, ein Arzt ein ganzheitliches Wissen über Heilung, so wie der Jurist ein Gefühl für Gerechtigkeit. Heute entstehen hingegen in diesen Basisdisziplinen immer mehr Fachsparten, die mit ihrem auf kleinste Details fokussierten Blick das Ganze, das eigentliche Ziel völlig aus den Augen verlieren. Jeder Patient, der eine Odyssee von Facharzt zu Facharzt hinter sich hat, ohne dass eine Heilung überhaupt ernsthaft angegangen wurde, sondern nur eine scheinbare Fülle von Symptomen behandelt wurde, muss an diesem System verzweifeln.

Am Beginn dieses Dilemmas steht der Schüler eines Gymnasiums vor der Frage, auf welche Fächer er sich konzentrieren, welche er ablegen soll. Auf Elternabenden beschweren sich in der Regel allerdings nicht akademisch gebildete Eltern, dass der Sohn oder die Tochter mit Fächern belästigt werden, die sie für ihre berufliche Karriere überhaupt nicht brauchen würden. Diese Sicht übernehmen die Schüler auch gern und wehren alles ab, was sie nicht für sinnvoll erachten. Dabei übersehen Eltern und Schüler natürlich, dass die Wirklichkeit, das Berufsleben, heute nicht mehr garantiert, dass der einmal gewählte Beruf bis ins Rentenalter ausgeübt werden kann. Die durchgängige Erwerbsbiografie ist die Ausnahme geworden, auch und gerade bei Akademikern.

Eine humboldtsche Universalbildung eines Basiswissens ist eigentlich gefragt

In allen Bereichen der Forschung wird es immer deutlicher, dass eine ganzheitliche Sicht unabdingbar ist. Selbst in der Medizin kehrt die Einsicht ein, dass vielleicht eine umfassende Anamnese am Anfang jeder Diagnose und jeder Therapie stehen sollte. Ganzheitliche Ansätze, die traditionelle chinesische Medizin und homöopathische Therapien setzen sich inzwischen auch an deutschen Hochschulen durch, werden in das Programm der Lehre aufgenommen. Doch zuvor muss an den Schulen, am besten bereits im Kindergarten, die Barriere durchbrochen, das Interesse an Lernen und Wissen geweckt werden, bei allen Kindern. Alle bisherigen Pisa-Studien haben bewiesen, dass Schulsysteme, die offener sind, die allen Kindern durchgehend die gleiche Aufmerksamkeit und die gleichen Chancen geben, die dabei auch Lücken aus der familiären Vorbildung ausgleichen, die Schüler mit einem höheren Niveau und größeren Chancen entlassen. Elterninitiativen, die versuchen, das dreigliedrige Schulsystem zu erhalten, übersehen dabei, dass die alte humanistische Bildung schon lange nicht mehr geboten wird und die Gymnasien auch nur noch Fachidioten ausspucken. Der begabte Realschüler, der sich mühsam auf dem zweiten Bildungsweg das Fachabitur erarbeitet, hätte sicher auch an einem Gymnasium diesen Weg beschreiten können. Die Gymnasialempfehlungen am Ende der Orientierungsstufe sind so unsinnig und sachlich falsch, dass sie in einem frühen Stadium Lebenswege behindern. Der geplagte Dozent einer Hochschule muss sodann beklagen, dass das Grundwissen der Studenten rudimentär ist.

Das System schadet sich am Ende selbst

Der Blick auf den Stellenmarkt für Akademiker zeigt eine wachsende Fülle von Fachsparten, die angeblich nicht mit Absolventen der eigentlichen Fachrichtung, aber einer anderen Sparte besetzt werden können. Das Bildungssystem schafft also eine immer größere Zahl von spezialisierten Experten, für Sparten, die vielleicht überfüllt sind, vielleicht wieder wechseln, überholt sind, sich schlecht an den Trend anpassen können und so weiter. Auf der anderen Seite steht ein System von Spezialisten, das in manchen Bereichen keinen Nachwuchs findet und mit externen Fachleuten gefüllt werden muss. Genauso sieht es in den unteren Bereichen aus, werden nicht die Fachkräfte herangebildet, die benötigt werden, oder diese sind falsch spezialisiert. Die Lösung kann nur im Humboldtschen Sinne geschehen, mit einer breiten Grundbildung, auf deren Basis jede Spezialisierung erfolgen kann und einer parallel erfolgenden Veränderung des Wirtschaftssystems, in dem all die völlig überflüssigen Accessoires eliminiert werden, die niemand braucht, die überflüssig sind und keinen wirklichen Fortschritt erbringen.