‚Kur‘ und ‚Versicherung‘ gehören zum selben Wortfeld. Der folgende Beitrag ist eine Meditation über den Sinnzusammenhang der beiden Wörter.
Eine Kur ist im deutschen Sprachgebrauch ein Heilverfahren. So verstanden, fallen Kuren in die Zuständigkeit von Ärzten. Deren Hauptaufgabe ist es nämlich, Patienten zu kurieren. Eher selten verschreiben sie dazu Kuren im engeren Sinn, die mit einem oft mehrwöchigen Kuraufenthalt an ausgewiesenen Kurorten unter der Leitung von spezialisierten Kurärzten verbunden sind. Bei vielen Beschwerden tut es eine Medikamenten-“Kur“, sowohl in der Schulmedizin als auch in so mancher alternativen Heilkunde. Das Geschäft mit den Kuren leidet darunter keineswegs. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der florierenden „Wellness“-Industrie. Dem entspricht die modische Wortschöpfung Kurlaub. Solche Angebote sollen und wollen den Arzt nicht ersetzen, sondern nur auf die eine oder andere Weise gut tun: den Kurlaubern und dem Kurbizz.
Die täuschende Ähnlichkeit von „Kur“ und „Kür“
Wenn ein Kurarzt ein Fachmediziner ist, ist dann ein Kurfürst ein Medizinpapst? Das wäre ein Missverständnis; denn das Wort „Kur“ ist mehrdeutig. Im Falle des Kurfürsten bedeutet „Kur“ so viel wie „Kür“. Das hört sich immer noch sehr ähnlich an. Sobald wir aber die zugehörigen Tätigkeitswörter „kurieren“ und „küren“ miteinander vergleichen, wird der Bedeutungsunterschied offenkundig. „Küren“ ist ein altes deutsches Wort, das wir in der Umgangssprache kaum verwenden. Die Kurfürsten kürten im Heiligen Römischen Reich den König, das heißt, sie wählten ihn. Entsprechend ist eine Kür – zum Beispiel im Eiskunstlauf – kein Pflichtprogramm, sondern eine Wahlübung, deren Gestaltung also den Ausführenden weitgehend freisteht. Dagegen sind fast alle Verben, die auf „-ieren“ enden, Fremdwörter aus dem Lateinischen. So auch „kurieren“. Wobei in diesem Sinnbereich auch das Lehnwort „kuren“ vorkommt.
Das Fremdwort „Kur“
Dem Fremdwort „Kur“ liegt das lateinische Wort „cura“ zugrunde, dem das deutsche Wort „Sorge“ noch am besten entspricht. So gesehen, ist das Kurieren eine Art von Sorge, aber nicht die einzige. Der Arzt sorgt sich um seine Patienten. Priestern und Psychotherapeuten obliegt die eine oder andere Form der Seelsorge. Die Eltern sorgen sich um ihre Kinder. Und falls sie es sträflich nachlässig tun, springt die Fürsorge ein. Die Strom anbietenden „Versorger“ sorgen für Energie in den Haushalten. Wer ein Testament schreibt, sorgt vor. Eine andere Art von Vorsorge sind Gesundheitschecks. Und wieder eine andere Art ist die Geldanlage, vom Bausparen bis zur finanziellen Altersvorsorge. Auch die Sorgfalt (Wortsinn von Kuriosität!), die wir bei einer Arbeit oder einer sonstigen Aktivität walten lassen, ist Sorge. Und für alle sonstigen Besorgungen gilt das nicht minder. Streng genommen, haben wir nie „ausgesorgt“ und können wir nichts „entsorgen“; denn aus der Sorge sind wir nie entlassen. Die „Endlagerung“ von Atommüll ist für die untilgbare Sorgenlast nur ein besonders krasses Exempel. Bei jedem Sonnenaufgang hat es also viel Sinn, zu rufen: „Guten Morgen, liebe Sorgen!“
Der sich kurierende Mensch
Überaus gründlich und umsichtig hat der Philosoph Martin Heidegger das Phänomen der Sorge in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ gewürdigt. Danach ist das menschliche Dasein überhaupt das Wesen der Sorge. Dem menschlichen Sein ist es vorbehalten, um das menschliche Sein in Sorge zu sein. Es geht ihm zunächst und zumeist und damit auch letztlich um nichts anderes. Deshalb muss das menschliche Leben nicht voller Unannehmlichkeiten sein. Dazu gibt es zu viele „liebe Sorgen“. Man könnte es auch so sagen: Eigentlich will kein Mensch sein Leben mit „Zuckerschlecken“ verbringen, sondern es immer wieder dadurch genießen, dass der Schmerz nachlässt: der Schmerz des Geborenwerdens, der Schmerz des Reifens, der Schmerz jeder Anstrengung, jedes Auf- und Abstiegs, jeder Hoffnung und Enttäuschung, kurz: jeder Daseinsmöglichkeit. Im Grunde tut und erleidet man alles, um sich auszukurieren. Was uns, wie gesagt, niemals restlos gelingt.
Echte und bloß scheinbare Ableitungen von „kurieren“
Doch von dem philosophischen Tief- und Höhenflug noch einmal zurück auf unser Wortfeld. Während also das Küren im Sinne des Wählens auf ein Wort deutschen Ursprungs zurückgeht, beginnt die Wortgeschichte des Kurierens im Sinne des Sorgens bei den Römern. Daher sagt man statt „Fürsorge“ auch „Kuratel“, und ein Kuratorium ist im Wortsinn eine Fürsorgeeinrichtung, mit einem Kurator an verantwortlicher Stelle. Aber Vorsicht bei Wörtern wie „Kurier“ und „Kurie“, die ganz anderen Ursprungs sind! Der Kurier ist ein „Läufer“, ähnlich wie der Konkurrent; beide sind, beim Wort genommen, auf einem Kurs und nicht auf einer Kur. Der Kurie genannte päpstliche Hof leitet sich vom lateinischen „curia“ her, welches Wort eine Zusammensetzung aus zwei anderen ist: „co“ und „viria“; und das bedeutet Männervereinigung (!) und nicht etwa Heilsarmee.
Der Zusammenhang von „Kur“ und „Versicherung“
Ein anderes zusammengesetztes Wort, diesmal ein englisches, lohnt es sich aber noch näher anzuschauen: security. Dieses ist nämlich mit dem lateinischen „cura“ durchaus verwandt. Und auch dort findet sich das vergleichbare Kompositum „securitas“. Lateinisch „se cura“ bedeutet „ohne Sorge“. Im Deutschen bildete sich von daher das Wort „sicher“. Sicherheit ist demgemäß Sorgenfreiheit, also ein Zustand, den es höchstens annähernd gibt, ein Idealzustand. Da liegt es nahe, mit Sprüchen wie „Die Rente ist sicher“ (Norbert Blüm) riskante Versprechungen zu machen, will doch die Welt betrogen sein angesichts der ohnehin schon allzu vielen Sorgen. Und die vielen „Versicherungen“, die wir abschließen können, sind Wasser auf die Mühlen des „Homo faber“ (Max Frisch) in uns, der sich der unsicheren Existenz, in die der Mensch geworfen ist, glaubt entziehen zu können. Statt mit „Versicherungen“ mit „Schadensbegrenzungen“ zu werben, wäre ja bei weitem nicht so zugkräftig, obwohl immer noch reichlich optimistisch.