Alle Kulturen durchlaufen verschiedene Entwicklungsstadien, sagten die Evolutionisten. Ihre Theorien sind überholt, die Werke arrogant – aber dennoch nicht bedeutungslos.
Evolutionisten gehen davon aus, dass die Geschichte der Menschheit eine bestimmte Entwicklung durchläuft, und zwar vom Einfachen zum Komplexen, vom Niederen zum Höheren. Auch Wissenschaftler wie Tylor und Morgan folgten diesem Muster – und etablierten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine eigene universitäre Disziplin, die Sozial- und Kulturanthropologie.
Ethnozentrismus
Inspiriert vom philosophischen und vom biologischen Evolutionismus setzten sie dabei die eigene, westliche Kultur auf die höchste Stufe. Diese ethnozentrische Sichtweise korrespondierte durchwegs mit dem Kolonialgedanken. Und auch wenn nur wenige Sozial- und Kulturanthropologen mit den Kolonialmächten zusammen arbeiteten, der schlechte Ruf haftete lange Zeit an dieser Studienrichtung. Er überlebte auch die 1930er Jahre, als die evolutionistischen Theorien in der Anthropologie zu Grabe getragen wurden.
Vergleichbarkeit von Kulturen, Dynamik in Kulturen
Dennoch brachten die ersten anthropologischen Theorien auch Positives. Neu war, dass sie von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit und Gemeinsamkeit der verschiedenen Kulturen ausgingen. Zudem erkannten sie, dass in allen Kulturen dynamische Prozesse stattfinden, auch in den asiatischen und in den afrikanischen, denen bis dato eine gewisse Stagnation unterstellt wurde.
Sir Edward Burnett Tylor:
Da Tylor (1832 -1917) der erste war, der einen Lehrstuhl für Anthropologie inne hatte, gilt er als Begründer der universitären Anthropologie. Nach einer Mexiko-Reise publizierte er 1865 sein erstes Werk, 1871 erschien sein Hauptwerk „Primitive Culture“. Das Revolutionäre daran ist die Analyse von Menschen in ihren Institutionen. Tyler verfolgt einen idealistischen Ansatz, den Schwerpunkt der Evolution verortet er im Ideellen. Menschen, so die Überlegungen des Anthropologen, der als „Schreibtischtäter“ nicht viel von der Welt gesehen hatte, müssen geistige Entwicklungsstufen durchlaufen: Auf der untersten Stufe ist der Animismus, in welchem der Natur spirituelle Kräfte zugeschrieben werden. Die zweite Stufe ist der Polytheismus, der Mehrgott-Glaube, und auf der letzten Stufe steht der Monotheismus. Die von Tyler etablierten Begriffe Animismus, Monotheismus und Polytheismus sind auch heute noch Kategorien der Anthropologie.
Lewis Henry Morgan:
Dass Morgan (1818 – 1881) berühmter ist als Tylor, das verdankt er nicht seinen Theorien, sondern Marx und Engels. Beide befassten sich mit ihnen, Engels übernimmt sogar relativ unkritisch Teile aus Morgans Hauptwerk „Die Urgesellschaft“ (original „Ancient Society“, 1877). Im Gegensatz zu Tylor behauptete Morgan, dass Anthropologie ohne Feldforschung nicht effizient sei. Er selbst hielt sich monatelang bei den Irokesen auf, erforschte ihre Verwandtschafts-Beziehungen und kreiert eine evolutionistische Entwicklungsreihe auf materialistischer Basis. Alle Menschen, so Morgan, mussten eine einheitliche Entwicklung durchlaufen. Zuerst waren sie Jäger und Sammler und befanden sich auf der Stufe der Wildheit, dann, als Bodenbauern, erklimmten sie die Stufe der Barbarei, von dort erreichten sie die Zivilisation, handwerklich und städtisch organisierte Gesellschaften.
James George Frazer:
Frazer (1854 – 1941) ist der bekannteste unter den Evolutionisten. Zwischen 1911 und 1915 publizierte er sein siebenbändiges Werk „The Golden Bough“, 1928 erschien die deutsche Übersetzung „Der goldene Zweig“. Frazer versucht in seinem Monumentalwerk alle Mythen aller Völker zu vereinen. Auf der Analyse der Mythen basiert auch sein Stufenmodell: Zuerst glaubten die Menschen an Magie, danach an Totemismus und letztendlich an Religion. Unter „Magie“ versteht Frazer nichts Unlogisches, sondern rationales Handeln, das nicht ausreichend erklärt werden kann, Religion existiert für ihn primär in „verschrifteter“ Form. Auch wenn das Stufenmodell widerlegt wurde – nicht in allen Kulturen gab es Totemismus – ist der Verdienst von Tyler ein bleibender. Denn die Mythenforschung wurde zu einem Spezifikum der Anthropologie.