Lese- und Schreibunfähigkeit ist keine Schande. Millionen Menschen in Deutschland können nicht lesen und nicht schreiben. Überwinden sie ihre Scham, kann ihnen geholfen werden.
Rund vier Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Diese Zahl ist das Ergebnis einer Schätzung des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Angesichts dieser großen Zahl drängt sich die Frage auf: Wie kommen Schreib- und Leseuntüchtige eigentlich klar in unserer Gesellschaft? Neben dem gesprochenen Wort beruht doch alle Kommunikation auf Schriftsprache. Wie leben Menschen damit, wenn sie in Büchern und Zeitungen, auf Warnschildern und in der Nebenkostenabrechnung nur rätselhafte Schriftzeichen finden?
Mit Cleverness den Alltag bestehen
Fakt ist: Sie kommen zurecht. Mehr schlecht als recht zwar, aber sie schlagen sich durch. Analphabeten und Menschen mit Lese- und Schreibschwäche sind – zwangsläufig – clever. Sie wollen vermeiden, dass andere ihre „Schwäche“ entdecken. Es würde sie mit Scham erfüllen. Und so ist ihre Kreativität recht ausgeprägt: Entweder sie verlassen sich auf die Aussagekraft der Bilder von Verkehrszeichen, Icons oder Emoticons. Oder sie bitten andere um Hilfe, indem sie sagen, sie hätten „gerade unglücklicherweise“ ihre Brille nicht dabei. Zum Entschlüsseln der Zeichen helfen sie sich selbst durch logisches und kombinatorisches Denken oder mit dem „gesunden Menschenverstand“. Trotzdem drohen immer wieder peinliche Situationen. Kein Wunder also, dass mancher ein Ende dieses Zustandes herbeisehnt.
Anmeldung zum Kursus erfordert Vertrauen und Mut
Manche „outen“ sich und melden sich voller Unsicherheit bei einer Schulungseinrichtung für einen Kursus an. Öffentlich einzugestehen, zwei der wichtigsten Kulturtechniken der heutigen Zeit nicht zu beherrschen, erfordert Mut. Den bringen – gemessen an der Gesamtzahl – nur relativ wenige auf: Laut Bundesverband Alphabetisierung, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit finanziert wird, nehmen jedes Jahr rund 20.000 Menschen an entsprechenden Volkshochschulkursen teil.
Analphabetismus: Unterschiedlich ausgeprägte Lese- und Schreibschwächen
Manche können gar nicht lesen und schreiben, andere ein wenig, wieder andere können es besser, machen aber viele Fehler. Für einen individuell ausgerichteten Unterricht unterscheiden Alphabetisierungsdozenten den Grad der Lese- und Rechtschreibschwäche ihrer Kursusteilnehmer:
- Primärer Analphabetismus liegt vor, wenn eine Person keinerlei Lese- und Schreibkenntnisse erworben hat.
- Von sekundärem Analphabetismus spricht man, wenn nach mehr oder minder erfolgreichem Schulbesuch ein Prozess des Vergessens einsetzt. Einmal erworbene Schriftkenntnisse gehen durch Nichtnutzung wieder verloren.
- Funktionaler Analphabetismus ist in Deutschland am meisten verbreitet. Er bedeutet, dass die schriftsprachliche Kompetenz des/der Betreffenden nicht ausreicht, um den Anforderungen in der jeweiligen Gesellschaft gerecht zu werden.
Analphabetismus hängt auch von gesellschaftlichen Anforderungen ab
In Deutschland sind alle genannten Formen von Analphabetismus anzutreffen. Und doch bleibt Analphabetismus ein relativer Begriff. Denn ob eine Person als Analphabet gilt, hängt nicht nur von ihren individuellen Lese- und Schreibkenntnissen ab, sondern auch von der Frage: Welcher Grad an Schriftsprachebeherrschung wird eigentlich erwartet innerhalb des gesellschaftlichen Umfeldes, in dem die Person lebt? Wenn die individuellen Kenntnisse niedriger sind als die erforderlichen und als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnisse, dann spricht man von funktionalem Analphabetismus.
Durch eigenen Willen den Teufelskreis des Analphabetismus unterbrechen
Funktionale Analphabeten bewegen sich in einem Teufelskreis: Sie nutzen die Schriftsprache im Alltag nicht, weil sie sie nicht beherrschen. Und sie beherrschen sie auch deswegen nicht, weil sie entsprechende Eigenaktivitäten vermeiden. Wer wagt sich schon an etwas heran, das einem erfahrungsgemäß nicht gelingt? Diese Haltung macht schon den Versuch indiskutabel. Unterbrochen werden kann dieser Kreislauf nur durch eine neue Zielsetzung, einen neuen Gedanken:
Ich kann vielleicht doch, wenn ich will. Und es würde mir sehr viel bringen!
Mit dieser (noch vorsichtigen) Entschlossenheit kann man den nächsten Schritt tun. Der ist leicht, denn die Türen stehen offen, wenn man weiß, an wen man sich richten kann:
Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. gibt jenen, die Lesen und Schreiben auch noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter lernen wollen, viele Informationen auf seiner Internetseite. Weitere Fragen zu Alphabetisierungskursen beantworten Volkshochschulen und diverse Bildungsträger.