Seine an Alzheimer erkrankte Mutter bis zu ihrem Tod zu pflegen, fand der Karlsruher Adam Junker selbstverständlich.
Wie es anfing, kann Adam Junker (56) heute gar nicht mehr so genau sagen. „Es waren Kleinigkeiten“, erzählt er, „Dinge, von denen ich zunächst dachte, es seien altersbedingte Vergesslichkeiten.“ Als sich die „Kleinigkeiten“ häuften, brachte Adam seine damals 85-Jährige Mutter Elisabetha zu einem Neurologen. Er stellte die Diagnose Morbus Alzheimer, eine neurodegenerative Erkrankung, an der jährlich 2000 Menschen in Deutschland neu erkranken.
Bei den 70- bis 90-Jährigen ist etwa ein Drittel betroffen. Derzeit erkranken in Deutschland jedes Jahr etwa 200.000 Menschen neu an Alzheimer. Experten schätzen, dass sich die Zahl der Alzheimer-Patienten aufgrund des steigenden Altersdurchschnitts der Bevölkerung in den nächsten 20 Jahren verdoppeln wird. Mit zunehmendem Alter erhöht sich das Erkrankungsrisiko: Während nur 3 Prozent der unter 70-Jährigen von Alzheimer-Demenz betroffen sind, sind es bei den unter 90-Jährigen bereits 33 Prozent. Alzheimer-Demenz ist bisher nicht heilbar und verursacht tiefgreifende Veränderungen im Alltag der betroffenen Familien.
Die Geschichte von Elisabetha Junker
Elisabetha Junker stammte aus Serbien. Als Aussiedlerin kam sie 1953 mit ihrem Mann Adam nach Deutschland und fand in Karlsruhe ein neues Zuhause. Zwei Jahre später kam das einzige Kind auf die Welt: Sohn Adam. Er studierte Jura und eröffnete 1991 in der Nähe seines Elternhauses eine eigene Anwaltskanzlei. Sein Vater war zwischenzeitlich verstorben. Adam jr. übernahm das zweite Stockwerk seines Elternhauses. „Es bestand keine Notwendigkeit, sich eine eigene Wohnung zu suchen, meine Mutter und ich verstanden uns gut“, erklärt er. Abgrenzungsprobleme gab es keine. Mutter Elisabetha war körperlich fit, kümmerte sich um Haus und Garten, kochte, buk, nähte und traf sich mit den gleichaltrigen Nachbarfrauen.
Vielleicht hat Adam die ersten Anzeichen der schweren Krankheit seiner Mutter übersehen oder falsch eingeschätzt. Doch eines Tages hatte sie einen Kuchen ohne Mehl gebacken. „Da war klar, dass ihr Gingko jetzt nicht mehr viel bringt“, erzählt Adam.
Adam Junker fand es selbstverständlich, seine an Alzheimer erkrankte Mutter zu pflegen
Als Elisabethas Kurzzeitgedächtnis immer öfter ausfiel, half ihr der Sohn. „Ich fand das selbstverständlich“, sagt er. „Wir fühlten uns familiär sehr verbunden.“ Die Möglichkeiten, die Angehörige demenzkranker Menschen haben, fand Adam begrenzt. „Ich wollte meine Mutter auf keinen Fall abschieben. Doch es gab in der Nähe Einrichtungen, die sie tageweise betreuen konnten. Meine Mutter fühlte sich dort nicht besonders wohl, aber wenn ich Gerichtstermine hatte, blieb oft keine Alternative.“
Doch dann kam die Zeit, in der Elisabetha von der Tagespflegeeinrichtung als nicht mehr gemeinschaftsfähig eingeschätzt wurde. Adam konnte sie nur noch schlecht alleine lassen. Eine neue Telefonanlage sorgte dafür, dass Elisabetha ihren Sohn in der nahe gelegenen Kanzlei mit nur einem Knopfdruck anrufen konnte. An manchen Tagen rief sie alle fünf Minuten an. „Sie wusste nicht mehr, dass sie schon mit mir gesprochen hatte“, erklärt der Anwalt, der in dieser Zeit seinen Kanzleibetrieb drastisch herunterfahren musste. „So etwas wie Zeit gab es bei ihr nicht mehr. Wie ein Kleinkind außerhalb jeglichen Zeitgefüges lebt, so lebt auch eine Demenzkranke“, weiß er inzwischen. „Bei allem, was sie tun, fehlt die Logik, die man hat, wenn man auf einen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann. Doch ohne diesen Erfahrungsschatz gibt es keine Relationen mehr, keine Erklärungen, keine Beziehungen. Vieles kann nicht mehr eingeordnet werden – das macht Angst.“
Alzheimer: Vergessen macht Angst
Manchmal waren diese Ängste so groß, dass ein Telefonat nicht mehr genügte. Adam musste seine Arbeit unterbrechen und zu ihr fahren, sie beruhigen, mit ihr spazieren gehen. Oft waren es vereinzelte, beängstigende Gedanken, die sich bei Elisabetha festsetzten und unaufhörlich im Kreis drehten. Einmal hatte Adam beim gemeinsamen Mittagessen erwähnt, dass er wohl seinen Geldbeutel in der Kanzlei vergessen habe. Wenige Stunden später fand sich seine Mutter in einem hoffnungslos verwirrten Zustand wieder. „Was sollen wir jetzt nur machen, wir haben alles verloren, wir sind bestohlen worden, was sollen wir jetzt nur machen?“, fragte sie immerzu. Aus dem harmlos verlegten Geldbeutel war für die alte Dame eine existenzbedrohende Situation geworden und es war schwer, sie zu beruhigen.
Weil Adam Elisabetha nur noch ungern alleine ließ, nahm er sie überall hin mit: Auf Geburtstagsfeiern, Einweihungspartys, Konzerte und Ausstellungseröffnungen. Die Frage, ob seine Mutter davon noch etwas gehabt hätte, versteht Adam nicht. „Sie amüsierte sich dort auf ihre Weise und genoss die Gesellschaft, auch wenn sie die Anlässe nicht mehr verstand.“
Morbus Alzheimer verändert die Betroffenen und ihr Leben
Doch die Krankheit veränderte Elisabetha. Meist war sie ganz in sich selbst versunken, doch die sonst so stille Frau wurde manchmal auch aggressiv, wenn man sie anfassen oder führen wollte. Nachbarn und Freundinnen erkannte sie nicht immer. Einmal schrie sie beim Anblick einer Freundin um Hilfe, einmal griff sie nach einem Schirm und schlug nach einer Nachbarin. Einmal wollte Adam einige Zimmer des Hauses neu streichen. Eine Freundin half dabei. Der Anblick der vermeintlich fremden Frau verwirrte Elisabetha. Wenn es in diesem Haushalt schon eine Frau gab, was wollte sie dann hier? Sie fühlte sich überflüssig und rannte verzweifelt davon. Adam fand sie auf der Straße. Er musste die Freundin, die beim Streichen helfen wollte, wegschicken.
Es kam noch einmal vor, dass Elisabeth scheinbar grundlos aus dem Haus lief und desorientiert durch die Straßen irrte. Doch schon ein weiteres halbes Jahr später war sie dazu nicht mehr in der Lage. „Die Krankheit hatte ihren Körper geschwächt, sie bekam erste Atemprobleme“, erzählt der Sohn. Aus Pflegestufe 1 wurde Pflegestufe 2.
Ein Abschied für immer
Dann hatte Elisabetha bei einem Waldspaziergang überraschend noch einen klaren Moment. „Sie wusste plötzlich um ihre Krankheit, und ich versprach ihr, mich um sie zu kümmern. Dann haben wir uns voneinander verabschiedet.“ Es klingt liebevoll, aber auch sachlich, wenn Adam das erzählt. Man spürt das Mitgefühl, aber kein Selbstmitleid. „Ich kam mit der ganzen Situation vermutlich besser klar, als man das vermuten würde, wenn man es sich nur vorstellt“, erklärt er. „Ist man erst einmal in dieser Situation und akzeptiert sie, dann belastet sie nicht mehr.“
Als Elisabetha 88 Jahre alt war, buchte Adam noch einen Flug nach Amerika für sie beide, um eine alte Freundin zu besuchen. „Es war nicht in jedem Moment der Reise klar, ob sich meine Mutter an Judy überhaupt erinnerte, aber die Frauen haben sich prächtig verstanden“, erzählt Adam und lacht.
Nur wenige Wochen später wäre diese USA-Reise nicht mehr möglich gewesen. Immer öfter blieb Elisabetha im Bett, konnte kaum noch kauen oder schlucken. Aus Pflegestufe 2 wurde Pflegestufe 3. Adam engagierte eine Krankenpflegerin, mit der er sich die Rundumbetreuung seiner Mutter teilte.
In den letzten drei Monaten ihres Lebens war Elisabetha bettlägerig. Sie konnte kaum noch atmen. Adam und die Pflegerin saugten ihr regelmäßig den Schleim ab, der sich in ihrem Mundraum und der Speiseröhre bildete. An einem kühlen Novemberabend 2006 versagte die Lunge der Kranken. „Ich hatte eben noch mit ihr gesprochen und fünf Minuten später war sie reglos“, erzählt Adam. Um keinen Fehler zu machen, beatmete er sie, bis der Notarzt eintraf. Doch der konnte nur noch ihren Tod feststellen. Elisabetha Junker wurde 89 Jahre alt.