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Alkoholikerkinder – kleine und große

Die Auswirkungen des Alkoholismus der Eltern trägt man in und mit sich, auch wenn man erwachsen ist. Ein normales Leben ist schwer, meistens unmöglich.

Das Leben mit einem Alkoholiker-Vater oder einer Alkoholiker-Mutter ist einem Leben in einem Kriegsgebiet gleichzusetzen. Zwar wird nicht buchstäblich geschossen, es fahren auch keine Panzer durch die Wohnung, und Flugzeuge werfen keine Bomben von der Zimmerdecke. Allerdings ist die Unsicherheit, die ständige Angst vor dem betrunkenen Elternteil und seinem Trunkenheitszustand, die Panik vor den verbalen Ausbrüchen oder der Gewalt des Trinkenden sowie die trügerische Sicherheit scheinbar friedlicher Momente oder Tage dieselbe.

Ein Alkoholiker ist krank, d. h. aus medizinischer Sicht wird Alkoholismus als Krankheit anerkannt. Ein Kind eines Alkoholikers wird das Trinken, den betrunkenen Zustand und die damit verbundenen Erlebnisse allerdings niemals als Krankheit akzeptieren, denn eine Krankheit kann durch Hilfe geheilt werden. Alkoholismus ist nur durch Nichthilfe zum Stillstand zu bringen, aber unheilbar. Ein Kind wird den Alkoholiker immer als Säufer, Trinker oder Penner wahrnehmen, und es wird im Laufe der Zeit Hass ihm gegenüber entwickeln. Möglicherweise gelingt es dem erwachsenen Kind später einmal, mit Hilfe geeigneter therapeutischer Maßnahmen den Alkoholiker als einen kranken Menschen zu akzeptieren. Im Zustand des Erlebens ist das allerdings unmöglich.

Die Grundwahrheit einer Alkoholikerfamilie besteht darin, dass die Liebe des Alkoholikers uneingeschränkt dem Alkohol gilt – weder seinem Ehe- oder Lebenspartner, seinen Kindern, eventuell vorhandenen Haustieren, noch seiner Arbeit oder eventuell vorhandenen Hobbies.

Der Alkoholiker entscheidet sich in jeder Lebenssituation für den Alkohol und gibt ihm die absolute Priorität in seinem Leben. Nur, wenn ausreichend Alkohol in seiner Nähe ist, ist er willens und imstande, sich um andere Dinge zu kümmern.

Aufgrund seiner Trunksucht und seines damit verbundenen immer mal mehr oder weniger betrunkenen Zustandes ist eine ausreichende Sorge für Personen in seinem Leben nicht möglich.

Dasselbe gilt für Angelegenheiten wie Arbeit, Haushalt, Ausflüge, Hobbies, Gespräche, Termine, usw.

Durch seine bestehende Hilfsbedürftigkeit dominiert der Alkoholiker das gesamte Familienleben. Alles rotiert um ihn als zentralem, schwächsten Punkt der Gemeinschaft. Das Kind eines Alkoholikers lernt sehr früh und sehr schnell, dass es für sich alleine sorgen muss. Darüber hinaus wird es lernen, eine Rolle zu leben, denn für Individualität ist in einer Alkoholikerfamilie kein Platz. Auch wird Individualität nicht gewünscht, und sowohl der Alkoholiker als auch sein coabhängiger Partner setzen alles daran, diese Individualität zu unterdrücken und zu zerstören.

Die Rollenmuster der Kinder sind je nach Reihenfolge der Geburt unterschiedlich. In den meisten Fällen wird das erstgeborene Kind zum Manager und Verantwortlichen der Familie heranwachsen. Das Nesthäkchen wird schnell lernen, lieb und entzückend zu sein, angepaßt und fröhlich. Kinder in der Mitte sind meistens nur da – nicht sonderlich wahrgenommen oder beachtet, dafür aber mit viel freier Zeit, die nicht genutzt werden kann.

In einer Alkoholikerfamilie sieht es finanziell in den meisten Fällen schlecht aus. Da der Alkoholiker stets dafür sorgt, dass Geld in allererster Linie zum Beschaffen von Alkohol verwendet wird, bleibt für andere Dinge wenig, manchmal auch garnichts mehr übrig. Aus diesem Grund kennen Kinder eines Alkoholikers auch in der heutigen Zeit Hunger, insbesondere dann, wenn die Familie neben dem Alkoholismus noch im HartzIV-Bezug leben muss oder der nichttrinkende Elternteil nicht in der Lage ist, für ein zweites Einkommen zu sorgen. Aus diesem Grund lernen manche Kinder aus Alkoholikerfamilien durch Diebstahl, für sich zu sorgen.

In der Schule glänzen Kinder eines Alkoholikers meistens durch zwei Extreme: Sie sind entweder übermäßig gut oder absolut schlecht. In beiden Fällen wird ihnen dadurch Beachtung geschenkt:

Im ersten Fall dienen die guten schulischen Leistungen dem Alkoholiker und seinem coabhängigen Partner als Alibi dafür, dass in seiner Familie alles in Ordnung ist, und es lastet der Erwartungsdruck auf dem Kind, die Leistungen konstant erbringen zu müssen.

Im zweiten Fall bedeuten die schlechten schulischen Leistungen für das Kind verbale und buchstäbliche Gewalt, weil es nicht als Alibi herhalten kann. Darüber hinaus wird dem Kind suggeriert, dass es durch diese schlechten Leistungen der Grund dafür ist, dass Mama oder Papa trinken muss.

Ein anderer enormer Druck, dem die Kinder tagtäglich ausgesetzt sind, ist die Ungewissheit darüber, in welchem Zustand der alkoholabhängige Elternteil sich befindet, wenn sie nach Hause kommen. Schon während der Schulzeit haben sie darum ein flaues Gefühl im Magen, das sie bereits morgens mit in die Schule nehmen. Sie leben in einer ständigen Erwartungsangst. Weil Alkoholismus ein Familiengeheimnis ist, sind sie nicht imstande, darüber zu reden oder sich jemandem anzuvertrauen. Aufmerksamen Lehrpersonen oder Eltern von Schulkameraden kann es möglich sein, das Kind darauf anzusprechen, doch werden sie zu 98 % die Antwort erhalten, alles sei in Ordnung, es gehe ihnen gut. Direkte Fragen, ob Mama oder Papa trinken, werden sie mit einer Lüge beantworten. Ältere Kinder schwächen das Ausmaß oft ab, indem sie Aussagen machen wie: „Ja, manchmal.“, „Nur am Wochenende.“ oder „Nicht mehr als jeder andere auch.“ Sie befinden sich in einem Kommunikationsgefängnis, das ihre Familie beizeiten um sie herum aufgebaut hat, und sie haben weder Ausbruchsöglichkeiten, noch Mut, noch Fürsprecher. Sie sind alleine.

Alleine sind sie auch in der Welt der Erwachsenen, in die sie hineingedrängt wurden und Verantwortung für Dinge und Personen übernehmen müssen, der sie nicht gewachsen sind. Jeder weiß, dass ein 8-jähriger unmöglich die Sorge für ein Baby oder Kleinkind tragen kann, und dass eine 5-jährige unmöglich Fußböden saugen, bügeln oder den Hausflur reinigen kann. Für Kinder von Alkoholikern sind Situation wie diese leider häufig die Realität.

Alleine stehen sie ebenfalls da, wenn sie im ehelichen Kleinkrieg, der in einer Alkoholikerfamilie an der Tagesordnung ist, gezwungen werden, eine Position einzunehmen. Sie sollen dann Stellung beziehen gegen den „bösen Säufer“ oder die „ständig nörgelnde Mutter“. Sie sollen Farbe bekennen, dass sie den anderen, „besseren“ Elternteil lieben und unterstützen, aber wehe ihnen, wenn ihr Verhalten nicht so ist, wie der „bessere“ Elternteil das erwartet hat.

Kinder von Alkoholikern sind geprägt durch das Leben in einer chronischen Anspannung, die hervorgerufen wird durch Kommunikationslosigkeit, Streitereien und häufig auch Gewalt. Ihre Bezugspersonen sind durch Abhängigkeit und Coabhängigkeit emotional instabil, unberechenbar und reagieren häufig unangemessen auf verschiedenste Situationen. Hinzu kommt beim nichttrinkenden Elternteil Aggressivität durch Überforderung oder der emotionale Rückzug. Sie werden isoliert, weil die Familie sich hinter der Mauer des Familiengeheimnisses als eingeschworene Gemeinschaft präsentiert, aus der man nicht herausgeht und in die man auch niemanden hineinbringt. Angst, Scham und Hoffnungslosigkeit lähmen jede Aktivität.

Da in der Rollenstruktur einer Alkoholikerfamilie das Hauptaugenmerk auf den beiden Hauptdarstellern (Alkoholiker und coabhängiger Partner) liegt, werden die Kinder nicht wahrgenommen. Das führt auch bei ihnen selber zu einer mangelnden Selbstwahrnehmung. Der Mangel an Reflexion durch die engsten Bezugspersonen und der resultierende Mangel an Selbstreflexion machen das Kind sprachlos und treiben es in die wachsende Introvertiertheit. Das Kind kapselt sich ab, spricht nicht über Wünsche, Bedürfnisse oder Probleme, denn diese werden nur dem Alkoholiker zugestanden, der sich dazu hinreichend äußert. Kinder in Alkoholikerfamilien lernen frühzeitig, sich allen Umständen anzupassen, sodass Behandlungsbedürftigkeit (selbst bei schwerer Krankheit oder Unfällen) erst spät, manchmal garnicht erkannt wird.

Aus dieser Hilflosigkeit heraus entwickeln sie unterschiedliche Strategien, wie Sharon Wegscheider sie im Zuge ihrer Arbeit treffend beschreibt:

Sie versuchen, den gestressten und oft depressiven Eltern Arbeit abzunehmen, um sich eine Daseinsberechtigung im Familienkontext zu sichern. Sie werden damit zur unerlässlichen Stütze und ziehen daraus ihre emotionale Befriedigung. Solche Kinder werden zu früh erwachsen, einzelgängerisch und entwickeln später oft einen ausgeprägten Kontrollzwang und ein Helfersyndrom. Nicht selten erkrankenn sie an Magersucht. Sie glauben, ständig etwas leisten zu müssen, um geliebt und akzeptiert zu werden, sind aber andererseits nicht bereit, Hilfe und Nähe anzunehmen, weil sie es gewohnt sind, alles allein zu regeln.

Andere reagieren rebellisch und unangepasst, um wenigestens negative Aufmerksamkeit zu erlangen. Das hat aber auch zur Folge, dass innerfamiliäre Probleme auf das Kind abgewälzt werden, das „an allem Schuld ist“. Das Risiko für eine eigene Alkoholabhängigkeit ist später besonders hoch, da das Kind schon früh lernt, dass abweichendes Verhalten Zuwendung garantiert.

Eine weitere Strategie besteht in dem Versuch, sich „aufzulösen“ und sowenig wie möglich als Individuum in Erscheinung zu treten, um nicht zur Zielscheibe von Angriffen zu werden. Der Rückzug in eine Scheinwelt (Märchen, Fantasy, später auch verschiedene Süchte und/oder Exzesse) bietet die einzige Alaternative zur als unerträglich erlebten Realität. Viele dieser Kinder sind später unselbständig, unfähig, auf Menschen zuzugehen und eigene Ziele zu entwickeln. Sie neigen zu Einsamkeit, Depression und Gefühlsstau.

Kleinere Kinder, die die Situation noch nicht rational erfassen können, reagieren auf die ständigen Spannungen mit diffusen Ängsten und somatischen Symptomen wie Schlafstörungen, Hyperaktivität sowie Entwicklungshemmung.

Kinder aus Alkoholikerfamilien werden in der Hauptsache körperlich erwachsen. Selbst, wenn sie ausziehen und jeden Kontakt zu ihrer Familie abbrechen, nehmen sie alle Gefühle, alle Gedanken und jedes erlernte Muster mit und leben ihre Rolle weiter. In späteren zwischenmenschlichen Kontakten werden große Defizite sichtbar: wenige oder sehr konfliktbeladene Beziehungen (oft zu einem alkoholabhängigen Partner) entstehen, möglicherweise werden sie selbst suchtkrank, manchmal auch narzistisch. Einige Borderlinepatienten kommen aus Alkoholikerfamilien.

Wie vielschichtig die Probleme erwachsener Kinder von Alkoholkindern sind, läßt sich an folgender Aufzählung der häufigsten Störungen deutlich erkennen:

  • Hyperaktivität, Leistungsabfall, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten
  • Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion (Rückzug, Aggressionen, Abgrenzungsschwierigkeiten, Neid)
  • somatische Beschwerden (Schmerzen, Herzrasen, etc)
  • Angst, Depressionen, Komplexe, posttraumatische Belastungsstörungen, ständige Unruhe
  • Trennungsangst; Angst, verlassen zu werden; Angst um die Eltern, Abnabelungsschwierigkeiten, Schuldgefühle, geringes Selbstvertrauen, erlernte Hilflosigkeit, Durchsetzungsprobleme, Unfähigkeit zu planen
  • innere Spaltung (ambivalente Gefühle zwischen Verachtung und Sorge),körperliche und psychische Schäden durch Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung
  • Burnout-Syndrom, Essstörungen, Selbstverletzungen
  • Straffälligkeit, Suchterkrankungen, Coabhängigkeit

Natürlich hängt das Ausmaß dieser Probleme stark von der individuellen Familiensituation, von der Dauer und Schwere der Alkoholabhängkgkeit der Bezugsperson und vom Alter und der Disposition des Kindes ab.

Eine Betroffene hat das Leben als erwachsenes Kind einer alkoholabhängigen Mutter treffend beschrieben:

„Es ist, als lebst Du in einem Glaskasten. Du kannst beobachten, wie normales Leben geht, aber Du kannst es weder leben noch Dir vorstellen, wie es sich anfühlt. Manchmal machst Du etwas nach, aber Du wirst niemals imstande sein, es richtig einzuordnen. Du lebst inmitten von Menschen, aber du kannst nicht zu ihnen vordringen, noch kannst du sie an dich heranlassen.“

Glücklicherweise haben erwachsene Kinder von Alkoholikern jedoch die Fähigkeit, zu sehen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, und viele holen sich Hilfe. Gut aufgehoben sind sie in Selbsthilfegruppen für Angehörige von Alkoholikern, Al-Anon-Gruppen oder finden Unterstützung in therapeutischen Einrichtungen wie dem Frauenzentrum Courage, das vielerorts zu finden ist sowie in Gesprächen mit Psychologen und Therapeuten.