AD(H)S ist eine der meist diskutierten psychiatrischen Erkrankungen des Kinder- und Jugendalters. Die Fokussierung auf diese Altersgruppen verdeckte allerdings vor allem im deutschsprachigen Raum bis in die späten 1990er Jahre, dass die Symptome nicht zwangsläufig verschwinden, wenn die Betroffenen erwachsen sind. Das European Network Adult ADHD, eine unabhängige Gruppe von Klinikern und Forschern, geht auf der Grundlage von Verlaufsstudien davon aus, dass bei ungefähr zwei Drittel aller Betroffenen einige oder alle Symptome ins Erwachsenenalter fortbestehen [1]. Und epidemiologische Studien zeigen eine Krankheitshäufigkeit in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung von 2–5% [2,3]. So entstand eine Versorgungslücke, in deren Folge junge Erwachsene, die eben noch engmaschig therapeutisch begleitet wurden, seit dem 18. Geburtstag alleine da stehen. Die Therapeuten sind weg, aber die Alltagsprobleme bleiben.
Symptome zeigen sich im alltäglichen Leben
Betroffene neigen beispielsweise zu einem problematischen Suchtmittelkonsum. So ist der Marihuana- und Alkoholgebrauch höher als bei Personen ohne ADHS. Die genauen Ursachen konnten noch nicht geklärt werden. Vermutet wird allerdings ein Zusammenhang mit Symptomen wie mangelnder Impulskontrolle und mangelnder Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben. Forscher wie die Psychologin Nina Baer und der Psychologe Professor Dr. Peter Kirsch interpretieren den Suchtmittelgebrauch als eine Art Selbstmedikation [5,6].
Ebenso belegen Studien, dass Erwachsene mit einer ADHS häufiger Konflikte im Straßenverkehr haben als andere. Auf dem Boden schlechter Aufmerksamkeit auf der einen Seite und einer erhöhten Risikobereitschaft auf der anderen können Regeln, wie Geschwindigkeitsbegrenzungen, nur schwer eingehalten werden. So verschulden Erwachsene mit ADHS im Durchschnitt häufiger Unfälle und richten größeren Schaden an als nichtbetroffene [6]. Auch in Beziehungen zeigen Patienten deutliche Schwierigkeiten. Konflikthafte Partnerschaften, Beziehungsabbrüche und Scheidungen sind wahrscheinlicher als bei Nicht-Erkrankten. Einen besonderen Einfluss haben hier neben den Symptomen Reizbarkeit und Unaufmerksamkeit die Folgeprobleme der ADHS etwa im Beruf. Typisch ist beispielsweise ein häufiger Wechsel von Berufen und Tätigkeiten durchbrochen von Phasen der Arbeitslosigkeit. Dabei bleiben Betroffene oft unterhalb ihrer beruflichen Möglichkeiten. Ein Versagen in den so wichtigen Lebensbereichen Beruf und Beziehung begünstigt wiederum Selbstwertprobleme und soziale Isolation [5,6].
Erste diagnostische Kriterien kommen 1995 aus den USA
Die für die Psychiatrie gängigen Diagnosesysteme DSM-IV und ICD 10 enthalten bislang keine explizit auf das ADHS im Erwachsenenalter bezogenen Kriterien. Als einer der ersten publizierte im Jahr 1995 Professor Dr. Paul H. Wender, Pionier auf dem Gebiet der Erforschung der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen, die diagnostischen Utah-Kriterien [9]. Für die Diagnosestellung müssen die ersten beiden Symptome vorliegen sowie zwei weitere der beschriebenen Kriterien.
- Aufmerksamkeitsstörung: Die Betroffenen sind leicht ablenkbar, haben beispielsweise Schwierigkeiten, längeren Gesprächen zu folgen oder längere schriftliche Arbeiten zu erledigen.
- Fortbestehende Hyperaktivität: Sie äußert sich bei Erwachsenen eher als innere Unruhe und als Unfähigkeit, sich zu entspannen.
- Instabilität der Stimmung: Die Betroffenen sind leicht erregbar und die Stimmung wechselt zwischen normaler Stimmung und Niedergeschlagenheit. Ein genereller Interessenverlust oder somatische Begleiterscheinungen treten jedoch im Gegensatz zur Depression nicht auf.
- Desorganisiertheit: Aufgaben werden begonnen, aber nicht zu Ende gebracht, und Problemlösestrategien sind oftmals unzureichend bzw. unsystematisch.
- Hitziges Gemüt: Dies zeigt sich in einer erhöhten Reizbarkeit, häufigen Wutausbrüchen und einer generell verminderten Frustrationstoleranz im Alltag.
- Emotionales Überreagieren: Betroffene sind in alltäglichen Stresssituationen bspw. unangemessen ängstlich oder auch aufbrausend.
- Impulsivität: So fallen die Betroffenen anderen ins Wort und reden dazwischen, sie fällen leicht und schnell Entscheidungen, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Beispiele dafür sind impulsives Einkaufen, das schnelle Schließen und Beenden von Freundschaften oder übereilte Kündigungen (7).
Im Jahr 2003 erschien dann mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychiatrie und Nervenheilkunde die erste Leitlinie für Diagnostik und Therapie. Damit war die Grundlage geschaffen, das Krankheitsbild AD(H)S im Erwachsenenalter auch in Deutschland zunehmend in den Blick der Forscher und Kliniker zu rücken.