Es ist schwer, sich durch den fachsprachlichen Jargon ärztlicher Diagnosen zu kämpfen. Was ist zu beachten, wenn ein Kind „nicht richtig“ spricht?
„Dys“ heißt die Vosilbe des Wortes. Dies ist griechisch und steht in allen medizinischen Begriffen für: „gestört“ im Sinne von „funktioniert nicht“. „Lalie“ meint im Griechischen den Sprechakt an sich, also die Bewegungen der Sprechorgane und die dazugehörigen Laute. Kurz: das Sprechen. Dyslalie: das gestörte Sprechen. Es dürfte klar sein, was damit gemeint ist – oder? Nein, ganz so einfach ist es nicht. Deshalb kommt die Erweiterung mit der Laut- und Lautverbindungsbildung dazu. Was ist das nun wieder?
Die Lautbildung: „gehörte Buchstaben“
Wenn man spricht, kommen keine Buchstaben aus dem Mund. Genau genommen, kann man nichts sehen, allerdings etwas hören, nämlich Sprachlaute. Was als geschriebener Buchstabe „em“ heißt, kommt als gesprochener Laut ohne das „e“ daher, also nur „m“. Sagt ein Kind „Mama“, buchstabiert es nicht „em – a – em – a“, sondern reiht und bindet Laute aneinander: „M – a – m – a“. Und wenn das Kind die Laute korrekt bildet, dann ist mit seiner Lautbildung alles in Ordnung, es spricht „richtig“.
Wenn der Laut nicht da ist
Spricht aber ein Kind einen Buchstaben nicht richtig aus – besser: einen Laut -, dann fehlt dieser wahrscheinlich in seinem so genannten „Lautinventar“. Und das kann jeden Laut treffen. Manche Kinder sprechen das „k“ nicht aus. Manche ersetzen es mit einem „t“. Diese Laute klingen ja auch sehr ähnlich. Was wiederum daran liegt, dass sie auf ähnliche Art gebildet werden: Luft wird hinter der Zunge angestaut und danach aus dem Mund quasi „heraus explodiert“. Sagen Sie einmal „t“ oder „k“, dann wissen Sie, was gemeint ist. Aus diesem Grund nennt man diese Laute „(Ex-)Plosivlaute“. Nun wird allerdings das „k“ mit dem Zungenrücken gemacht. Das ist gar nicht so einfach; mit der Zungenspitze geht es viel leichter, und schon hat man ein „t“. Andere Kinder finden das mit dem Zungenrücken leichter. Die können dann vielleicht das „k“, aber das „t“ nicht.
Spezifische Störungen mit griechischen Namen
Und so könnte man nun das ganze Alphabet – nein, Lautinventar – durchgehen, denn es gibt für jeden Laut ein ähnlich klingendes Pendant. „m“ und „n“ werden ebenso vertauscht wie „sch“ und „s“. Manchmal werden sie auch der Einfachheit halber weggelassen. Dann ist die Lautbildung gestört: Dyslalie. Die Ärzte wollen es auf Griechisch wissen. Der griechische Buchstabe für ein „s“ heißt „sigma“. Kann das Kind also das „s“ nicht, hat es einen Sigmatismus. „Kappa“ heißt „k“ – Kappazismus also. Und da gibt es noch den Chitismus, den Lambdazismus, und so weiter.
Lautverbindungsstörungen – schwierige Mundakrobatik
Nun haben gerade die Deutschen nicht nur Laute. Da gibt es auch noch die artikulatorisch anspruchsvollen Lautverbindungen, das sind hintereinander geschaltete Konsonanten oder Mitlaute. „Fasche“ zu sagen, ist leichter als „Flasche“. „Sprudel“ und „Straße“ stellen viele Menschen, die Deutsch als Fremdsprache lernen, geradezu vor eine Herausforderung. „Str“, „Spl“ oder „Gr“ klingen daher auch immer ein wenig hart und geräuschvoll. Denn die Mitlaute sorgen für Geräusche; Klänge entstehen durch Vokale, Selbstlaute, deren Klang von sich alleine lebt und keine weiteren Buchstaben benötigt, um „laut zu werden“ im Alphabet: Daher heißt es „a“ – Selbstlaut, steht für sich allein, aber „ka“ – braucht das „a“, damit man es überhaupt hören kann – Mitlaut eben. Hat ein Kind eine Dyslalie mit einer Störung in der Lautbildung – kann es zum Beispiel ein „f“ nicht sprechen -, dann ist so gut wie sicher, das alle Lautverbindungen mit „f“ nicht funktionieren können. Statt „Flasche“ sagt das Kind dann vielleicht „Lasche“, statt „froh“ – „roh“ oder „sroh“. Eine isolierte Lautverbindungsstörung aber kann durchaus vorkommen, nämlich immer dann, wenn das Kind den Laut an sich schon „begriffen“ hat und zum Beispiel „Schaf“ durchaus sagen kann – aber beim „Schlaf“ doch noch das „l“ weglässt oder das „sch“ ersetzt.
Ist eine Dyslalie langwierig und schwer wiegend?
Es gibt auf den Heilmittelrezepten laut Heilmittelrichtlinie sogenannte „Schlüssel“, eine Buchstaben-Zahlen-Kombination, die auf das Störungsbild und seine Schwere hinweist. Eine „SP1″ ist immer eine Störung der Sprache vor Abschluss der Sprachentwicklung“, was bedeutet: Wortschatz und Sprachverständnis sind wahrscheinlich betroffen, vielleicht auch noch die visuelle oder auditive Wahrnehmung zusätzlich. Hierfür werden pauschal 50 Therapieeinheiten genehmigt, weil die Störung einer langen Behandlung bedarf.
Eine „SP2“ bedeutet: Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung. Heißt: Das Ohr funktioniert, aber das Gehirn kann die Höreindrücke nicht korrekt verarbeiten. Dafür werden maximal 20 Behandlungen verschrieben, wobei die Therapie nicht immer so zügig voranschreitet, wie es die Geldbörse der Kassen veranschlagt. Und die SP3 ist „nur“ eine Artikulationsstörung, die bei einer SP1 und SP2 sowieso noch zusätzlich auftritt, bei der SP3 aber quasi isoliert ist. Und diese Artikulationsstörung wird aufgefächert:
Ist nur ein Laut betroffen oder zwei, dann heißt es „partielle Dyslalie“, weil nur ein kleiner Teil des Lautinventars betroffen ist (lat. pars, partis: der Teil). Man kann das Kind gut verstehen, der Rest der Sprache „klappt“ – sonst wäre es keine SP3-Artikulationsstörung, sondern gravierender, eine Sprachstörung mit der Kennung SP1 zum Beispiel. Man hält seitens der Kassen zehn bis zwanzig Therapieeinheiten von meist fünfundvierzig Minuten für sinnvoll. Wenn das nicht ausreicht, kann man eine „Weiterbewilligung außerhalb des Regelfalls beantragen“. Dabei hilft der Sprachtherapeut vor Ort.
Sind mehr als zwei Laute betroffen, drei oder vier, dann wird es schon schwerer, das Kind zu verstehen. Hier spricht man von einer „multiplen Dyslalie“. Bedenken Sie: Die Lautverbindungen klappen dann jeweils auch nicht. Das kann dann so klingen:“Mama, dibt du mi den Lü-el?“ Soll heißen: „Mama, gibst du mir den Schlüssel?“Aus „g“ wird „d“, das „s“ wurde weggelassen, das „r“ kommt nicht, und das „schl“ wird auf das „l“ limitiert. Diese Therapie nimmt mehr Zeit in Anspruch. Die Kassen bewilligen zunächst auch nur bis zu zwanzig Stunden. Dyslalie ist nicht so schwer wiegend wie ein eingeschränkter Wortschatz oder fehlendes Sprachverständnis. Sollten aber weitere Defizite vorliegen, stellt sich auch meist eine andere Diagnose wie: „Störung der Sprache vor Abschluss der Sprachentwicklung“ (SP1).
Sind mehr als vier Laute betroffen, fünf und mehr, dann ist die Dyslalie „universell“. Seien Sie versichert, selbst die Mütter und Omas verstehen das Kind dann nicht mehr gut. Solch eine Therapie dauert ihre Zeit. Und sie drängt, je älter das Kind ist: Unverständnis führt oft zu Isolation und Traurigkeit oder Aggression! Bei universellen Dyslalien verstehen die Ärzte durchaus, dass zwanzig Behandlungen nicht ausreichen, und helfen bei den Anträgen für die Therapie „außerhalb des Regelfalles“. Daher: Angenommen, das Kind sagt, es muss zur Toilette und wird nicht verstanden – ein guter Grund für eine Heilmittelverordnung mit der Diagnose SP3, Artikulationsstörung: Dyslalie, Störungen in der Laut- und Lautverbindungsbildung!