In der Leistungsbeurteilung durch Vorgesetzte treten viele Beurteilungs- & Attributionstendenzen auf, die die Bewertung fundamental beeinflussen.
„Ich habe das vielen Leuten zu verdanken. Du brauchst einen Trainer, der auf dich setzt. Eine Mannschaft, die dir hilft. Und Menschen in deinem Umfeld, die dich unterstützen: Meine Eltern, mein Opa, meine Frau.“, so Thomas Müller (20), Jung-Nationalspieler, WM-Teilnehmer und Deutscher Meister 2010 des FC Bayern München (in: Bild, 7. Mai 2010).
Dieses Zitat von Thomas Müller zeigt in besonderer Weise, dass Leistung und Erfolg nicht nur von der leistungserbringenden Person, sondern auch von Faktoren und Personen im sozialen Umfeld des Leistungserbringers abhängen. Dass Thomas Müller in der Beurteilung seiner Leistung auch den Beitrag seines sozialen Umfeldes anerkennt, spricht nicht nur für ihn, sondern widerspricht auch der generellen Tendenz von Menschen, die Ursachen für wahrgenommene Erfolge allein sich selbst zuzuschreiben.
Leistungsbeurteilung in Unternehmen läuft nicht immer konfliktfrei
In Unternehmen wird unter dem Begriff der „Leistungsbeurteilung“ ein Verfahren zur Beschreibung und Bewertung von vergangenem, gezeigten Leistungsverhalten der Mitarbeiter eingesetzt, das als Grundlage für die Gehaltsfindung, die Entwicklungsplanung oder die Potentialerkennung dient. Im Rahmen eines Leistungsbeurteilungsgespräches kommt es im Idealfall zu einem Austausch über die Einschätzung des Leistungsverhaltens des Mitarbeiters – der Selbsteinschätzung des Mitarbeiters wird dabei die Fremdeinschätzung des Vorgesetzten gegenübergestellt.
Doch längst nicht alle Beurteilungsgespräche laufen widerspruchs- und konfliktfrei ab, wenn unterschiedliche Einschätzungen und Bewertungen der Mitarbeiterleistungen aufeinanderprallen. In diesem Falle beurteilt der Mitarbeiter seine eigenen Leistungen besser als der Vorgesetzte – Konsequenzen aus der Differenz: Unverständnis, Gefühl der Fehleinschätzung, unendliche Diskussionen, Streit, zuweilen Abbruch des Gesprächs. Doch auch in den weitestgehend harmonisch ablaufenden Leistungsbeurteilungsgesprächen treten ebenfalls Unterschiede in der Beobachtung, Beschreibung und Beurteilung des Leistungsverhaltens auf. Woran liegt das?
Leistungsverhalten ist eine Funktion von Person und Situation
Grundsätzlich ist das Verhalten einer Person in einer spezifischen Situation abhängig von Merkmalen, die in der Person liegen, und von Merkmalen der Situation oder des Umfelds, in dem sich die Person befindet. In Anlehnung an Kurt Lewins Feldtheorie (1982) stellt das Verhalten V eine Funktion der Person P und der Umwelt U dar, wobei P und U in dieser Formel wechselseitig abhängige Größen sind: V = f(P,U).
- Merkmale der Person können sein: Wahrnehmung, Bedürfnisse, Werte, Ziele, Motive, aktuelle Motivationen, Einstellungen, Erfahrungen, Einsatzbereitschaft, Entscheidungen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten.
- Merkmale der Umwelt bzw. Situation: Gesellschaft, (Lebens-)Raum, Zeit, Lautstärke, Personen, Organisation, Ausstattung, Arbeitsmittel, Kommunikationen, Informationen oder Anforderungen der Aufgabe.
Selbstwerterhaltende Tendenzen von Mitarbeitern in der Leistungsbeurteilung
Nimmt man die Perspektive des Mitarbeiters ein, so lässt sich dessen Selbsteinschätzung mit seiner Selbstwahrnehmung und den sogenannten „selbstwerterhaltenden Attributionen“, den Ursachenzuschreibungen für Handlungen und Verhalten erklären:
- Selbstwerterhöhung: Mitarbeiter mit geringem Selbstwert neigen dazu, ihren Selbstwert durch positive Bewertung der eigenen Leistung zu erhöhen.
- Selbstwahrnehmung: Das eigene Verhalten wird eher als abhängig von situativen Bedingungen interpretiert: „Ich reagiere flexibel auf jeweilige Situationsbedingungen!“
- Personenattribution bei Erfolgen: Eigene Erfolge werden internal stabilen und globalen Persönlichkeitsmerkmalen zugeschrieben: „Ich habe es selbst bewirkt!“
- Situationsattribution bei Misserfolgen: Eigene Misserfolge werden external attribuiert und internal auf instabile und spezifische Persönlichkeitsmerkmalen zugeschrieben: „Die Umstände sind verantwortlich!“ – oder: „Ich habe mich nicht genug angestrengt!“
Nimmt man die Perspektive des fremdeinschätzenden Vorgesetzten ein, so treten folgende Attributionen und Beurteilungstendenzen auf:
- Fremdwahrnehmung: Das Verhalten des Mitarbeiters wird eher internal auf stabile Persönlichkeitsmerkmale zurückgeführt: „Der ist immer so!“
- Unterschätzung des Situationsanteils: Die Kontextfaktoren und die situativen Einflüsse auf die zu beurteilende Person werden systematisch unterschätzt.
- Überschätzung des Personenanteils: Die Persönlichkeitsmerkmale als Ursachen für Verhalten werden systematisch überschätzt.
Hauptgrund für die Überschätzung des Personenanteils ist, dass dem Beurteiler die situativen Kontexte und zusätzlichen sozialen Rollen des Beurteilten nur wenig bekannt sind und bedeutsam erscheinen.
Die Tendenzen der Unter- und Überschätzung, auch als „Fundamentaler Attributionsfehler“ bezeichnet, treten insbesondere bei vermeintlich leistungsschwächeren Mitarbeitern auf, deren Minderleistungen auf stabile persönliche Eigenschaften und Einstellungen attribuiert werden. Personen werden zudem für negative Folgen ihres Verhaltens umso mehr persönlich verantwortlich – und nicht als situationsabhängig – beurteilt, je größer der Schaden, je fremder und entfernter und je weniger attraktiv sie dem Beurteiler erscheinen. Ist die Beziehung zwischen Mitarbeiter und Vorgesetztem letztlich geschädigt, wird das als negativ bewertete Verhalten des Mitarbeiters vom Vorgesetzten als absichtlich und auf stabile Persönlichkeitsmerkmale – und positives Verhalten nur als zufällig und auf externale, instabile Umstände attribuiert.
Vorgesetzte sind mitverantwortlich für die Mitarbeiterleistungen
Normalerweise haben negativ bewertete Personen keinen Einfluss auf das eigene Selbstwertgefühl – mit einer Ausnahme: wenn die negativ bewertete Person – hier: der Vorgesetzte – Entscheidungsmacht über Belohnungs- und Bestrafungsanreize besitzt und ausübt. Nicht nur hierbei wird deutlich, dass der Vorgesetzte ein wesentlicher Faktor für das Verhalten und die Leistung von Mitarbeitern ist. Aufgrund der Entscheidungs- und Belohnungsmacht sowie der Weisungsbefugnis ist der Vorgesetzte der wesentliche Kontextfaktor für das gezeigte Leistungsverhalten des Mitarbeiters und somit mitverantwortlich für die Mitarbeiterleistungen. Die Besonderheit an dieser Mitverantwortung: Der Vorgesetzte attribuiert in der Regel auf Persönlichkeitsmerkmale des Mitarbeiters und unterschätzt systematisch seinen eigenen Einfluss auf dessen Verhalten und Leistung – er ist schlichtweg blind für seine eigene Verantwortung!
Der fundamentale, blinde Fleck des Vorgesetzten: er selbst!
Um das Verhalten des anderen angemessener beurteilen zu können, bedarf es eines selbstkritischen Umgangs mit den persönlichen Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Attributionstendenzen, Bewusstheit für die prinzipielle Fehleranfälligkeit von Personenbeurteilungen und die Beschränkung der Beurteilung auf das Verhalten der Person: Denn nicht die Persönlichkeit des Mitarbeiters wird beurteilt, sondern das Verhalten in einem bestimmten situativen Kontext!
Hat man als Mitarbeiter – wie Thomas Müller – das Glück, von einem reflektierten und kompetenten Vorgesetzten, den man selbst positiv bewertet, eine positive Bewertung der eigenen Person und Leistung zu erhalten, so wirkt sich das positiv auf den eigenen Selbstwert aus. Gut für Thomas Müller, gut für seine Entwicklung und Leistung – und besonders gut für ihn: Anders als in Unternehmen wird im Misserfolgsfall nicht er entlassen, sondern der Trainer. Mögen Louis Van Gaal, Joachim Löw und er noch lange Freude aneinander haben und miteinander dankbar und erfolgreich arbeiten. Und möge Thomas Müller noch lange das Glück haben, Leistung zu erbringen und diese von seinem Umfeld durch Angebote, Vertragsverlängerungen oder Auszeichnungen – wie „Bester Nachwuchsspieler WM 2010“ – anerkannt zu bekommen. Und wenn doch nicht: Er hat immer noch seine Eltern, seinen Opa und seine Frau!