Warum es die Evolution so eingerichtet hat, dass Herumirrende im Kreis laufen.
Wenn der Orientirungssinn versagt
Es gab außer kurzem Gras nichts zu sehen, alles sah gleich aus; weit entfernt sahen wir eine gerade Linie – den Horizont. Am späten Nachmittag, als wir bereits sehr müde waren, gelangten wir zu unserer großen Überraschung an den Ort zurück, wo wir in der vergangenen Nacht kampiert hatten und von wo aus wir am Morgen losgegangen waren. Wir waren nach links und wohl den ganzen Tag lang im Kreis gelaufen.“ Wenn dichter Nebel aufkommt oder wenn man eine Sand- oder Schneewüste durchquert, verliert man leicht die Orientierung. Dann ist die Gefahr groß, dass es einem so ergeht wie dem großen Indianer-Maler George Catlin in der Prärie – man läuft im Kreis. Doch weil sich auch das Orientierungssystem stetig in dieselbe Richtung verschiebt, hat man die ganze Zeit über das Gefühl, schnurgeradeaus zu gehen. Wenn man dann in Panik gerät, läuft man immer schneller, die Kreise werden immer enger, und am Ende landet man wieder dort, von wo aus man aufgebrochen ist. Für dieses merkwürdige Phänomen macht die Standardtheorie den Körper verantwortlich. Angeblich übernimmt er das Ruder, sobald der Orientierungssinn versagt. Und da der Körper nicht völlig symmetrisch gebaut ist – in aller Regel ist ein Bein ein wenig kräftiger oder länger als das andere, ein Arm etwas stärker als der andere – soll er dazu neigen, ständig nach der einen oder anderen Seite abzuweichen.
Ist der Körper daran schuld, dass man ständig im Kreis läuft?
Diese Erklärung kann allerdings nicht stimmen. Experimente, die der amerikanische Biologe Schaeffer schon in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre durchgeführt hat, haben nämlich ergeben, dass es allein vom Zufall abhängig ist, ob jemand nach links oder rechts ausschert. Bei ein und denselben Testpersonen, die mit verbundenen Augen geradeaus laufen sollten, war manchmal ein Links-, manchmal ein Rechtsdrall zu beobachten. Außerdem spricht gegen die herkömmliche Theorie ein Umstand, den die Angehörigen von Jäger-Sammler-Kulturen noch gut kennen: Nicht nur Menschen, auch Pferde, Hirsche, Elche und viele andere Tiere haben die Angewohnheit, sich weniger geradlinig als in leichten Kurven vorwärts zu bewegen. Und sie bewegen sich im Kreis, wenn sie aus irgendeinem Grund die Orientierung verloren haben – oder wenn sie von einem Raubtier verfolgt werden.
Welchen Nutzen es hat, im Kreis zu laufen
Doch es gibt eine alternative Erklärung. Sie stammt von dem schwedisch-amerikanischen Ingenieur und Wissenschaftler Erik Jonsson, der sich seit Jahrzehnten mit der Erforschung des menschlichen Orientierungssinns befasst. Das Im-Kreis-Laufen, behauptet Jonsson, ist ein Schutzmechanismus, den die Evolution irgendwann selbst hervorgebracht hat. Er soll gewährleisten, dass Säugetiere, die vom Weg abgekommen sind oder die Hals über Kopf vor einem Angreifer fliehen müssen, immer wieder dorthin zurückkehren, wo sie sich am besten auskennen und wo ihre Überlebenschancen am größten sind: in ihrem eigenen Territorium.
Unter normalen Umständen, erklärt Jonsson, laufen weder Menschen noch Tiere konstant geradeaus, sondern erlauben sich dauernd Abweichungen vom direkten Kurs. Diese Abweichungen werden jedoch von ihrem inneren Navigator unablässig registriert und korrigiert. Der innere Navigator ist allerdings schnell überfordert, wenn er in der Außenwelt nicht die markanten Merkmale findet, die er für die Kursbestimmung braucht. Und er arbeitet schlecht oder setzt völlig aus, wenn er unter Erschöpfung, Stress oder Panikattacken zu leiden hat. In solchen Krisensituationen kann er die Kursabweichungen nicht mehr korrigieren – und das Tier oder der Mensch bewegt sich jetzt spiralenförmig vorwärts.
Europäern, die sich in der Wüste verirrt haben, nützt es offenkundig wenig, wenn sie dauernd im Kreis laufen. Selbst schuld, sagt Jonsson. Dass der Mensch einmal zum Globetrotter werden würde, konnte die Evolution unmöglich voraussehen. Und deshalb hat sie ihn mit einem Orientierungssinn ausgerüstet, der an ein eng begrenztes Gebiet angepasst ist: an die Umgebung, in der man aufgewachsen ist.